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Barrierefreiheit ist nicht subjektiv – sie braucht Regeln

Neulich saß ich als selbst eingeladener Experte in einem Online-Seminar mit anderen Menschen zusammen, das Thema darf ich nicht verraten. Im Endeffekt ging es aber darum, die Barrierefreiheit von Webseiten von Web-Inhalten zu verbessern. Wie immer in solchen Runden hatten wir eine Person dabei, die ewig lange Monologe gehalten hat, ich kann ja Bodo Ramelow verstehen, wenn er in solchen Besprechungen lieber Tetris spielt. Im Endeffekt beschwerte sich dieser Herr aus der Selbsthilfe darüber, dass Anforderungen zur Barrierefreiheit häufig nicht umgesetzt würden, weil sie nicht in den Regelwerken stünden. Die Beschwerden einzelner Personen würden nicht ernstgenommen. Auch höre ichöfter, die Leute hätten einzelne Blinde, die sie bei Fragen ansprechen würden. Eine dieser blinden Personen äußerte, Akkordeons seien generell nicht barrierefrei, die Aussage ist und war schon immer falsch. An dieser Stelle möchte ich kurz erklären, warum Subjektivität in der Barrierefreiheit keine so große Rolle spielen darf.
Problem 1: Regeln sind zwangsläufig ein minimaler Kompromiss. Sie können und sollen nicht alle Szenarien abdecken, dann wären sie so dick wie das Telefonbuch von Berlin – und ungefähr so spannend zu lesen. Das ist übrigens einer der Gründe, warum deutsche Gesetze immer komplizierter werden.
Problem 2 ist, dass man an einem gewissen Maß an Komplexität nicht vorbeikommt, es sei denn, wir wollen in das Web der 90er Jahre zurück. Dann gibt es halt kein Onlinebanking, kein Amazon, kein Audible und so weiter. Man kann und sollte vieles einfacher machen, das habe ich auch schon öfter angemerkt. Die Usability vieler Mainstream-Anwendungen ist für Blinde von geht so bis Katastrophe. Aber wir müssen nun mal Adressen, Zahlungsdaten und so weiter in einem Onlineshop eingeben. Wer daran scheitert, hat sonst keine Chance im Internet.
Das dritte und wichtigste Problem ist aber, dass man Barrierefreiheit zu einer subjektiven Sache macht. X kommt mit Anwendung Y nicht zurecht, daher ist Y nicht barrierefrei. Das Chaos wäre vorprogrammiert, denn das hieße, dass jede einzelne Anmerkung in eine Handlungs-Anweisung für die Verpflichteten münden würde. X kommt mit weißem Text auf schwarzem Grund nicht zurecht, also ändern wir das in grau auf blau. Z kommt mit grau auf blau nicht zurecht, dann ändern wir das in grün auf braun. So kann das nicht funktionieren, aber darauf liefe es hinaus.
Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass manche Menschen an der Technik scheitern – ganz ehrlich, das passiert mir mehrmals am Tag. Ja, es ist total frustrierend. Dennoch ist es so, dass das Problem oft genug vor dem Bildschirm sitzt. Die Betroffenen Personen müssen so weit ertüchtigt werden, dass sie dazu in der Lage sind, die wichtigsten Aufgaben selbständig zu erfüllen, sofern die Website/Software barrierefrei programmiert wurde. Dafür gibt es die Regeln. Auch Feedback sollte berücksichtigt werden, aber nicht das Feedback einzelner Personen, sondern das gesamte Feedback einer größeren Zahl von Personen.
Accessibility is not subjective, it needs rules

Was wünscht sich ein Freiberufler von einem Auftraggeber?

Heute geht es ausnahmsweise nicht ausschließlich um Barrierefreiheit bzw. ist dieses Thema auf alle Freelancer übertragbar.
Freiberufler freuen sich natürlich über Aufträge. Dennoch habe ich ein paar Wünsche an Auftraggeber. Die Stichworte sind dabei Geld, Respekt und Verbindlichkeit.
Als Auftraggeber solltest du die Zeit des Auftragnehmers genau so wichtig nehmen wie deine eigene oder die deiner Kollegen: Last Minute Aufträge am 23.12. um 16.:59 Uhr, die am 26.12. fertig sein sollen ist nicht respektvoll – und das ist nur ein wenig übertrieben. Ja, manchmal ist es eilig, aber warum soll der Freiberufler dein schlechtes Zeitmanagement ausbaden? Wenn Fristen vereinbart wurden, sollte auch der Auftraggeber sich daran halten oder frühzeitig kommunizieren, wenn es nicht klappt. Auch sollte man bei Solo-Selbständigen respektieren, wenn sie manchmal wegen Krankheit, Kindern oder anderen Verpflichtungen ausfallen. Wir sind Menschen, keine Kaugummi-Automaten. Bei Freelancern erlauben sich Auftraggeber Schlampereien, die im normalen Berufsleben tödlich wären wie vereinbarte Telefon-Anrufe ohne Absage ausfallen lassen oder nie zurückzurufen.
Besonders stört der Ausschreibungs-Wahn der Verwaltungen. Mittlerweile werden auch Mini-Dienstleistungen wie ein Tages-Workshop oder die Übersetzung eines Dokuments mit 10000 Zeichen ausgeschrieben. Kaum jemand wird dafür mehr als 2000 € abrechnen, aber ist gezwungen, viele Seiten Ausschreibung zu verstehen. In der Regel fliegt man ohnehin raus, wenn man beim Ausfüllen der Formulare einen Fehler macht. Die Chancen sind überschaubar, die Ausschreibung zu gewinnen. Also lässt man es gleich sein. Bitte nur Leistungen ausschreiben, wenn das Volumen über 10000 € liegt.
Ein gewisses Maß an kostenloser Beratung ist in Ordnung. Sich aber zwei Stunden über Verfahren beraten zu lassen und dann jemand anderen zu beauftragen ist dreist. Ein weiteres Beispiel von Respektlosigkeit gegenüber dem Freiberufler. Das ist mir mehrfach passiert, deshalb bin ich mittlerweile weniger feizügig, wenn potentielle Kund:Innen eine Erst-Beratung haben wollen.
Rechnungen sollten innerhalb von vier Wochen bezahlt werden. Manche sind tatsächlich davon abhängig, gerade im 1. Quartal eines Jahres hat man viele Ausgaben, aber so gut wie keine Einnahmen. Mein Rekord waren vier Monate Wartezeit auf eine Bezahlung, die Kundin hat behauptet, krank gewesen zu sein, was offensichtlich nicht gestimmt hat. Welcher Angestellte würde vier Monate auf sein Gehalt warten? Wenn man krank ist und eine Rechnung erwartet, kümmert man sich um eine Vertretung.
Meines Erachtens muss man als Auftraggeber nicht absagen, wenn man ein Angebot eines Freelancers nicht annimmt. In der Regel schreibt man so viele Angebote, dass man es ohnehin irgendwann vergessen hat. Eine Ausnahme gilt dann, wenn bestimmte Fristen vereinbart wurden, wenn zum Beispiel ein Auftrag bis zu einer bestimmten Frist abgewickelt sein muss. Je nach Größe des Auftrags muss der Freelancer Ressourcen blocken, die er bei einer Absage des Angebots anderweitig nutzen kann. Mich rief mal eine Dame an, quatschte mir gefühlt 30 Minuten ein Ohr ab und meldete sich viele Monate, nachdem ich das Gespräch vollständig vergessen hatte, um mir mitzuteilen, dass jemand anderes den Auftrag übernehmen werde, das überflüssigste Gespräch aller Zeiten.
Kündige nur Beauftragungen an, wenn du tatsächlich etwas in der Pipeline hast. Es ist eine gängige Umgangs-Floskel gegenüber Freelancern, man werde sie weiterempfehlen oder für eine Beauftragung in Erwägung ziehen. Als junger Freelancer hatte ich das ernstgenommen, heute ignoriere ich solche Aussagen. Zumindest was die Beauftragungen angeht, ist da in 95 Prozent der Fälle nie etwas gekommen. Wahrscheinlich hat die Person mich zwei Minuten nach dem Gespräch vergessen. Natürlich folgt nicht auf jede unverbindliche Aussage auch tatsächlich ein Auftrag, aber diese Art von Höflichkeits-Floskeln führt dazu, dass zumindest ich die Leute dahinter nicht mehr ernst nehmen kann.
Kurz: Behandelt den Freelancer so, wie ihr selbst behandelt werden wollt. Die Mehrheit der Kunden ist tatsächlich nicht so. Leider macht die kleine Gruppe der schwierigen Kunden ein Mehrfaches an Ärger.
What a Freelancer in digital Accessibility expects from a Contractor

Sapera Studio und Co. – Junk-Studien in der Barrierefreiheit


In den letzten Jahren hat die Zahl an Junk-Studien massiv zugenommen: Es handelt sich um pseudo- oder gar völlig unwissenschaftliche Untersuchungen, bei denen entsprechend nur Unsinn herauskommt. Das spielt auch in der Barrierefreiheit eine zunehmende Rolle.
Junk-Studien sind Untersuchungen verschiedener Formate, die eine bestimmte Aussage bestätigen oder widerlegen sollen. Die Anführungsstriche bei Studie muss man sich immer dazu denken, das Wort soll dem Ganzen einen wissenschaftlichen oder zumindest objektiven Anstrich verleihen.
Bestimmte Merkmale sind diesen Studien gemein:

  • Die Aussage, die bestätigt oder widerlegt werden soll, steht bereits im Voraus fest. Wissenschaft ist generell offen, wenn nicht das gewünschte Ergebnis rauskommt, rechnet man nicht solange herum, bis es doch passt.
  • Das Studien-Design ist fehlerhaft. Befrage ich Webseiten-Betreibende, ob sie Barrierefreiheit beachten wird ein anderes Ergebnis herauskommen als wenn ich mir ihre Webseiten anschaue.
  • Die Methodik ist fehlerhaft: Ich arbeite mit nicht-repräsentativen Stichproben, selektiere die Befragten nach eigenen Kriterien, verwende Suggestiv-Fragen und so weiter.
  • Die Ergebnisse werden falsch oder verzerrend dargestellt.

Praktisch immer geht es bei solchen Studien um PR. Entweder möchte man einfach ein paar Schlagzeilen erzeugen oder ein Angebot verkaufen. Auf Portalen für Pressemitteilungen findet man fast stündlich solchen Junk.
Schauen wir uns ein paar Beispiele an. Jüngstes Beispiel ist die Firma Sapera Studios – nie gehört? Ich auch nicht. Irgendwie haben sie die größten Webshops untersucht und lauter Unsinn herausgefunden. Die kommentierten Fehler, die in dem Text zu finden sind:

  • Schriftgrößen und Kontraste sind nicht über die Website, sondern durch den Nutzenden einzustellen.
  • Video-Inhalte sollen nicht automatisch abspielen, das stört die Sprachausgabe und triggert Personen mit Anfalls-Erkrankungen.
  • Verständliche Sprache ist in den Richtlinien bisher nicht geregelt. Ein Anbieter wie Conrad richtet sich ohnehin an ein Fach-Publikum.
  • Die Methodik der Analyse ist hier gar nicht vermerkt. Falls sie jemand findet, freue ich mich auf Hinweise.

Fazit: Niemand behauptet, Webshops wären annähernd barrierefrei. Die Sapera-Untersuchung hilft uns allerdings nicht weiter und wir dürfen hoffen, dass niemand den dortigen Empfehlungen folgt. Ich würde empfehlen, sich nicht von dieser Agentur beraten zu lassen.
Selbst Bundes-Einrichtungen sind vor solchem Unsinn nicht geschützt. Die Überwachungsstelle des Bundes veröffentlichte letztes Jahr eine Studie zu gendergerechter Sprache. Im Endeffekt hatte sich eine – meines Erachtens nicht besonders erfahrene – Person mit Screenreadern verschiedene Kombinationen von Zeichen angeschaut und es wurden Verantwortliche aus Behinderten-Verbänden befragt. Man hätte auch einfach raten können, das hätte weniger Zeit gekostet. Das Studien-Design ergibt keinerlei brauchbare Erkenntnisse, was leider auf viele Studien dieses Bereiches zutrifft.
Die WebAIM-Studie habe ich ja bereits zerpflückt. Nur in Kürze: Man leitet aus einem automatischen Prüf-Tool die Barrierefreiheit einer großen Zahl von Websites ab, ohne Probleme zu gewichten. Ob 1 oder 100 Fehler, ob kleine Macke oder Riesen-Fehler, für WebAIM ist das alles das Gleiche. Das hilft dem Diskurs um Barrierefreiheit meines Erachtens nicht weiter.
Das Problem: Kaum jemand macht sich tatsächlich die Mühe, die Studien genauer anzusehen. Zumeist werden nur Überschriften und vielleicht die Zusammenfassungen gelesen. Der Quatsch wird dann mit einem Klick in Social Media geteilt, wahrlich kein Platz für tiefe Diskurse.
Man muss nicht wirklich tief in empirischer Forschung drin stecken, um die Angemessenheit von Methoden, Untersuchungs-Gruppen oder Prämissen infrage zu stellen. Meine Empfehlung lautet daher, solche Untersuchungen gänzlich zu ignorieren, wenn man nicht die Zeit hat, sie genauer zu prüfen.

Barrierefreiheit – ein Thema für Personalerinnen


In den nächsten Jahren wird Barrierefreiheit von einem Thema für Expertinnen zu einer Aufgabe für alle, insbesondere für das Personal. Die Gründe erfahrt ihr hier.
Der Hauptgrund ist der demografische Wandel. Falls kein Wunder geschieht, werden die Mitarbeitenden in den nächsten Jahren immer älter. Die Zahl der Gebrechen wird dadurch zunehmen: Rückenprobleme, Treppensteigen, die Arbeit am Computer – es gibt zahlreiche Herausforderungen, die man mit dem Schlagwort Wohlbefinden am Arbeitsplatz zusammenfassen kann und die mit Barrierefreiheit in Verbindung stehen.
Es geht also um die Gestaltung des Arbeitsplatzes, des Gebäudes, der Kantine, der digitalen Arbeitsumgebung, aber auch um die Erreichbarkeit mit Auto und ÖPNV, Lokationen für externe Veranstaltungen und Feiern oder barrierefreie Online-Meetings. Nebenbei gesagt ist es schade, dass man Leute in Online-Meetings nicht für schlechte Sprachqualität verprügeln kann – die 30 € für ein USB-Headset sollte man zuliebe seiner hörgeschädigten Kolleginnen entbehren können.
Das sind sehr viele Themen und dafür wird man nicht immer externe Expertinnen heranziehen können.
Nun muss nicht jeder Personal-Verantwortliche Expertin für Barrierefreiheit werden – das ist ohnehin kaum machbar und sie haben ja noch jede Menge anderer Aufgaben.
Aber sie müssen sich zumindest einige Basics draufschaffen. Meines Wissens kommt das Thema Behinderung in den Ausbildungen kaum vor, höchstens im Rahmen der beruflichen Rehabilitation. Aber Barrierefreiheit ist mehr Prävention als Reha und sollte deshalb als Teil der Vorsorge verstanden werden.
Möglicherweise ist oder wird Barrierefreiheit auch ein Teil des Personalmarketings. Wenn die Menschen länger arbeiten müssen, tun sie das eher in einer Umgebung, in der sie zurechtkommen. Und natürlich fällt es ihnen dort leichter. Vielleicht gehen ja einige Menschen früher in Rente, weil sie ihren Arbeitsplatz wegen mangelnder Barrierefreiheit nicht mehr ausfüllen können.
Accessibility as a everyone issue

HCaptcha, ReCaptcha und co. – warum es keine barrierefreien Bild-Codes gibt


Wie barrierefrei können grafische Bild-Codes, die sogenannten CAPTCHAs sein? Da selbst Leute, die behaupten, etwas von Barrierefreiheit zu verstehen sie einsetzen, scheint es hier einige Missverständnisse zu geben. Vorneweg sei gesagt, dass auch Lösungen nicht barrierefrei sind, die von sich anderes behaupten, Beispiele sind HCaptcha oder ReCaptcha. Ob das an der Lösung selbst oder einer „falschen“ Implementierung liegt, ist egal, sie sind nicht barrierefrei.
CAPTCHAs sind Mechanismen, die Menschen von automatisierten Spam-Bots unterscheiden sollen. Sie sollen Spam in Web-Formularen wie Kontaktformularen oder Kommentar-Bereichen verhindern.
Der Einsatz von CAPTCHAs verhindert wahrscheinlich eher, dass Menschen das Web-Formular nutzen, stellt aber für Bots keine große Hürde da. Ich würde soweit gehen, die Professionalität eines Webseiten-Betreibers infrage zu stellen, wenn der CAPTCHAs einsetzt. Da hat jemand keine Ahnung von Usability, Barrierefreiheit geschweige denn von effektiven Spamschutz-Mechanismen.
Vorneweg sei gesagt: Es gibt kein barrierefreies CAPTCHA. Ich wiederhole das gerne noch mal: Es gibt kein barrierefreies CAPTCHA.
Im Folgenden wollen wir uns ein paar Beispiele im Detail anschauen.

Die einfache Lösung

Die einfachste Lösung, die nach wie vor zu finden ist ist eine gleichbleibende Zeichenkette, die in einer Grafik versteckt ist. Tatsächlich hält das häufig sowohl Spammer als auch Menschen ab, die Menschen, weil sie es nicht lösen können oder wollen. Die Bots, weil der Algorithmus nicht auf die spezielle Kombination aus Formularfeldern und Grafik-Code hin betrachtet wurde. Bots funktionieren am besten bei Formularen, die gleich aussehen, kein Mensch macht sich die Mühe, sie für einzelne Seiten anzupassen, die ein wenig vom Standard abweichen.
Eine weitere Möglichkeit ist das Lösen einer simplen Mathe-Aufgabe. Auch hier gilt das oben gesagte: Das lösen mathematischer Formeln ist die ur-eigene Aufgaben von Computern. Diese Lösungen funktionieren nur deshalb, weil der Bot nicht angepasst wurde. Sobald das passiert ist, können die Bots ihre Aufgabe beginnen.

ReCAPTCHA – die Möchtegern-Barrierefreie-Lösung von Google

ReCAPTCHA ist die aktuell am weitesten verbreitete Lösung. In der Theorie soll man hier nur ein Häkchen setzen bei „Ich bin kein Roboter“. Das sollte doch auch der größte Honk hinbekommen oder?
Leider nein: Zum einen ist schon die Unterstellung, man sei ein Roboter ein bisschen unverschämt. Wichtiger ist aber, dass das Häkchen häufig nicht funktioniert. Meine Vermutung ist, dass es teils mit Datenschutz-Einstellungen des Browsers kollidiert. Wenn man bei Google eingeloggt ist funktioniert das Häkchen meistens, aber extra dafür wird sich niemand einen Google-Account zulegen.
Wie dem auch sei: Man bekommt also ein Bilder-Rätsel angezeigt. Das kann man als Sehbehinderter oder Blinder nur schwer oder gar nicht lösen. Nun gibt es die Audio-Alternative, die aktuell tatsächlich gut verständlich ist. Während man früher nur künstlich erzeugtes unverständliches Gebrabbel und Rauschen angeboten bekam, werden aktuell wohl Sound-Schnipsel aus Fernsehsendungen verwendet. Das dürfte für viele Schwerhörige noch relativ gut verständlich sein. Als Tastatur-Nutzer, Sehbehinderter oder Blinder muss man aber in dem Wust aus Bilder-Rätsel und Website erst mal die Audio-Alternative finden.
Hinzu kommt das Problem mit dem Zeitlimit: Bei ReCaptcha ist ein Zeitlimit eingestellt, welches aber für die Lösung der grafischen Capchas ausgelegt ist, also für Nicht-Behinderte. Für Behinderte gibt es hingegen das Problem, dass das Captcha mehr Schritte erfordert und das Zeitlimit nicht ausreicht.
Und was machen wir mit lernbehinderten und älteren Personen? Verstehen sie, was da von ihnen erwartet wird, warum sie mitteilen sollen, dass sie kein Roboter sind und was dieses Bilder-Rätsel zu bedeuten hat? Was machen Leute mit psychischen Problemen, für die jede weitere Aktion eine Belastung ist?
Last not least bleibt da das Datenschutz-Problem: Google ist das schwarze Loch des Datenschutzes, niemand weiß, welche und wie viele Daten an Google übertragen werden, wenn so ein CAPTCHA eingebunden wird.

Ich bin ein Roboter

Das Problem mit CAPTCHAs besteht darin, dass sie einerseits so komplex sein sollen, dass ein Algorithmus sie nicht schnell automatisch lösen kann. Andererseits sollen sie aber so einfach sein, dass jeder Mensch sie schnell lösen kann. Es ist leicht einzusehen, dass früher oder später der Mensch verlieren muss. Besonders gilt das für den behinderten Menschen, da seine sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten von denen Nicht-Behinderter abweichen. Das zweite Problem ist die Zeit: ReCaptcha gibt standardmäßig zwei Minuten. Das ist viel zu kurz für behinderte Menschen.
Ich habe mich einmal darüber lustig gemacht – es steckt aber ein wahrer Kern in der Satire: Algorithmen zum Maschinen-Lernen sollten schon heute in der Lage sein, die Codes besser zu lösen als Menschen. Wenn sie es noch nicht können, dann in naher Zukunft. Google, Facebook, Microsoft, Amazon und Apple arbeiten an solchen Lösungen, ganz zu schweigen von vielen kleineren Playern. Die KI zur Erkennung von Objekten auf Bildern sowie zur Sprach-Erkennung schreitet schnell voran. Man könnte sich einfach einen Zugang zur Google-Bild-Erkennungs-API kaufen und die API auf ReCAPTCHA ansetzen, dann würde man Google mit seinen eigenen Waffen schlagen.
Mit anderen Worten: CAPTCHAs werden in ihr Gegenteil verkehrt, sie werden besser von Maschinen als von Menschen erkannt.

Schön und gut – aber der ganze Spam?

Nun ist es korrekt, dass viel Spam über Web-Formulare reinkommt. Nur doof, dass CAPTCHA eher menschliche als botische Nutzer abhält. Ich könnte zähneknirschend akzeptieren, dass CAPCHAs unvermeidlich sind, das sind sie aber nicht. Ich sage immer, CAPTCHAs sind ein Instrument zur Kontakt-Vermeidung, setzen Sie sie ein, wenn Sie möchten, dass Ihr Formular nicht verwendet wird. Prüfen Sie ruhig einmal, wie hoch die Abbruchrate beim CAPTCHA ist. Aber welche Alternativen gibt es?
Wahrscheinlich kann man einen Großteil der Bots schon dadurch sperren, dass man eine Zeitverzögerung einbaut. Sagen wir, das Formular kann erst nach zehn Sekunden abgeschickt werden. Sicherlich gibt es Szenarien, in denen ein Mensch innerhalb von zehn Sekunden das Formular ausfüllt und abschicken will, das ist aber sehr unwahrscheinlich.
Eine weitere Möglichkeit sind Honeypots: Das sind Eingabefelder, die nur für den Bot sichtbar sind und von ihm ausgefüllt werden. Diese Eingaben werden automatisch als Spam klassifiziert und nicht zugestellt.
Für WordPress gibt es effiziente Spamfilter wie Akismet oder AntiSpamBee. Für andere gängige Redaktionssysteme gibt es vergleichbare Lösungen.
Sehr effizient sind auch Listen von Wörtern, die automatisch geblockt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass ein ernsthafter Kommentator oder Kontakter Worte verwendet, die in typischen Spam-Kommentaren auftreten. Sie kennen diese Worte, sie haben meistens etwas mit Geld oder Sex zu tun.
Ein weiterer Ansatzpunkt ist das E-Mail-Post-Fach selbst. Neben den integrierten Mechanismen der E-Mail-Provider kann man auch hier mit effizienten Filtern arbeiten, die einen Großteil des Spams aussortieren.
Am effektivsten erscheint eine Mischung mehrerer Methoden. Das sollte tatsächlich bis zu 100 Prozent des Spams abhalten. Es sollte aber klar geworden sein, dass CAPTCHAs weder barrierefrei sind noch zur Spam-Prävention effizient beitragen.
Das Problem besteht mit allen Lösungen, die versuchen, auf Basis von Nutzer-Interaktion Spam zu verhindern. Deswegen kann so ein Mechanismus nach aktuellen Bedingungen nicht barrierefrei sein.
Why CAPTCHA’s are not accessible

Warum Unternehmen von einfacher Sprache profitieren können

Viele Organisationen können in mehrfacher Hinsicht von einfacher Sprache profitieren. Das möchte ich in diesem Beitrag zeigen.
Leichte Sprache richtet sich an Menschen mit Lernbehinderung, früher als geistige behinderung bezeichnet. Die einfache Sprache hat Menschen als Ziel, die zwar lesen können, aber Probleme haben, komplexere Texte zu verstehen. Sie zielt also auf die allgemeine Bevölkerung, während die Leichte Sprache eine klar definierte Zielgruppe hat. Leichte Sprache vereinfacht und kürzt wesentlich stärker als die einfache Sprache.
Die einfache Sprache hat eine Reihe von Vorteilen gegenüber der Leichten Sprache: Vor allem kann sie von erfahrenen Schreiber:Innen selbst umgesetzt werden, während die Leichte Sprachesehr spezialisiert ist und eine Prüfung durch die Zielgruppe erwartet wird. Mit Publikationen mit geringer Halbwertszeit oder mit schneller Veröffentlichung ist die Leichte Sprache kaum vereinbar.
Was sind nun die Vorteile für Unternehmen und andere Organisationen? Es gibt zum Beispiel Vorteile für die Mitarbeiter:Innen, wenn die Firma divers aufgestellt ist. Viele neue Mitarbeiter:Innen werden aus dem Ausland rekrutiert und sprechen wenig Deutsch. Unsere ohnehin zu komplizierte Sprache ist für sie häufig unverständlich – und nicht nur für sie. Mittlerweile arbeiten auch viele Unternehmen auf Englisch oder mehrsprachig, weil etwa Abteilungen aus anderen Ländern beteiligt sind. Einfache Sprache lässt sich leichter übersetzen und zwar sowohl durch Menschen als auch durch Software – und das natürlich in beide Richtungen, also von Deutsch in Sprache X oder von X nach Deutsch.
Im Prinzip gilt das gleiche auch im B2C- Bereich. Verstehen Sie, was in Ihrem Versicherungsbrief, dem Steuerbescheid oder in der Bedienungsanleitung eines etwas komplexeren Gerätes steht? Wahrscheinlich nicht auf Anhieb. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir das nicht mehr hinterfragen. Im Grunde ist das aber reine Kunden-Unfreundlichkeit. Einfache Sprache ist die Kunst, komplexe Dinge verständlich zu machen. Alltagssprache ist die Kunst, komplexe Dinge unverständlich zu machen.
Mittlerweile glaube ich nicht mehr, dass die Verantwortlichen tatsächlich verständlich kommunizieren wollen. Sprache ist eines der letzten großen Distinktions-Merkmale, also eine Möglichkeit, den eigenen Habitus zur Schau zu stellen. Komplizierte Texte schreien hinaus: „Guck mal, ich bin klüger und damit besser als du“. Wir hören seit mindestens 20 Jahren im Rahmen des New Public Management, dass Verwaltungssprache für die Bürgerin verständlicher werden wollen. Wir sprechen seit Jahrzehnten von Entbürokratisierung, genau das Gegenteil passiert, Anträge werden immer komplizierter und die Verwaltung ist kaum noch in der Lage, sie in angemessener Zeit zu bearbeiten.

Dein Word ist mir genug – warum barrierefreie PDFs nicht mit InDesign und Acrobat optimiert werden müssen

Bildschirm mit AnimationDas Thema barrierefreie PDFs begleitet mich jetzt so lange, wie ich mich mit der Barrierefreiheit beschäftige, also ziemlich genau 13 Jahre. Und wissen Sie was? Es ist kaum besser geworden.
Ich erinnere mich an die ersten Beiträge, die sich darüber beschwerten, wie schwierig es ist, PDFs korrekt zu taggen. Das war, bevor der Tagging-Standard PDF UA aufkam. Und die Verbesserungen seitdem sind überschaubar. Komplexe, aber alltägliche Elemente wie Tabellen nachträglich zu taggen – dagegen ist eine Behandlung der Zahnwurzeln ein Vergnügen. Absurditäten wie ein List Item zu taggen – sowas kann man keinem ernsthaft erzählen. Formulare zu taggen scheint eine Kunst für sich zu sein, zumindest ist mir noch kein fehlerfreies PDF-Formular untergekommen. Ob 2 oder 12 Jahre vergangen sind – bei PDF scheint das kaum einen Unterschied zu machen. Die Unterschiede fallen umso mehr im Vergleich mit nativen Apps und Webseiten auf. Sie können heute auch als Blinder Dokumente in Google Docs formatieren, Sie können Videos auf YouTube einstellen, Sie können extrem komplexe Formulare mit Screenreader bedienen – dagegen entwickelt sich PDF im Schneckentempo.
Und wir reden noch nicht von relativ modernem Schnickschnack wie dynamischen Formularen in PDF – sowas lässt sich meines Wissens bisher nicht barrierefrei machen. Um es kurz zu machen: Wenn Adobe den Rest seiner Programme so gestalten würde wie die Barrierefreiheits-Tools – die Programme würden von sämtlichen Rechnern fliegen. Ihr Glück, dass sie ein Quasi-Monopol auf das Thema hat. Und das sich ein ganzer Pool von Dritt-Anbietern entwickelt hat, der Extra-Kohle damit macht, die Unfähigkeit von Adobe zu korrigieren und natürlich ganz uneigennützig bei dem Zirkus namens PDF UA Association mitmacht.
Warum das Ganze? Weil irgendein bescheuerter Standard namens PDF UA erfüllt sein möchte. Das führt zu einem hohen Maß an Mikro-Optimierungen, die die meisten Nutzenden von PDF nicht interessieren. Mit Microsoft Office, LibreOffice und auch Apples Office-Paket können Sie wunderbar barrierefreie PDFs erstellen und das als Laie, mit geringem Aufwand und ich kann Ihnen versprechen, dass es den meisten Nutzenden nicht auffallen wird. Überhaupt ist PDF ein Format von vorgestern, so überflüssig wie Sonnencreme im deutschen Winter: Nicht responsiv, kein Support für Vektorformate, keine Anpassbarkeit an spezielle Bedürfnisse – kann man so ein Format überhaupt als barrierefrei bezeichnen?
PDF hat einige eng begrenzte Einsatzgebiete, hat aber den bitteren Beigeschmack vieler verfehlter Digitalisierungs-Prozesse – man versucht, ein Format aus dem Print-Zeitalter in die Digitalität zu führen, wo es aber weder gebraucht wird noch sinnvoll ist.
Ich denke immer häufiger, dass es bei digitaler Barrierefreiheit nicht am Geld scheitert, wenn ich mir die Budgets für barrierefreie Dokumente anschaue. Es scheitert an Prozessen.
Why Office generated PDF Documents don’T have to be optimized with Acrobat and Co.

Warum die Zukunft der Barrierefreiheit OpenSource sein sollte

Schriftzug offenEin interessanter Umstand wird selten erwähnt: In OpenSource-Systemen wie Linux, aber auch vielen CMS stecken Millionen Arbeitsstunden durch Entwickler:Innen und andere Freiwillige. Das Web basiert im Wesentlichen auf OpenSource-Technologien. Hat sich schon mal jemand gefragt, warum es kein brauchbares kommerzielles Redaktionssystem gibt? Wozu auch, denn Typo3, WordPress, Joomla, Drupal und zahllose kleinere Systeme können Vieles besser. Vor allem eines haben sie voraus: Barrierefreiheit. Was ich an kommerziellen Systemen wie Magnolia, Sitecore oder dem Government Sitebuilder nicht gesehen habe. Aber auch in anderen Aspekten wie Nutzerfreundlichkeit oder Alltagstauglichkeit können kommerzielle Systeme nicht überzeugen. Warum man sich gerade in Deutschland für solche Systeme entscheidet, bleibt ein Rätsel, aber in Deutschland findet man ja auch das hyperkomplexe Typo3 gut, vielleicht will man es einfach schrottig haben. Man hat ja hierzulande auch eine Vorliebe für Gesetze, die nicht mal jene verstehen, die sie gemacht haben.
Ein anderes Beispiel sind Videokonferenz-Systeme. Zugegebenermaßen habe ich bis vor kurzem eher auf Zoom genutzt. Ein vernünftig aufgesetztes BigBlueButton kann aber ebenso gut funktionieren, vorausgesetzt, man hat eine stabile Audio-Qualität. Die letzten Versionen von BBB waren zumindest für Blinde gut bedienbar. Wenn man noch die Integration bzw. Erkennung von Gebärdensprache verbessert, gibt es keinen Grund mehr, auf WebEx und Co. zu setzen. Die Wheelmap und ähnliche Dienste setzen zurecht auf die Open Street Map, statt sich vom Googd Will des Platzhirschen Google Maps abhängig zu machen.
Und natürlich mein Lieblings-Beispiel: der Screenreader NVDA. Ich war ja nie ein großer Jaws-Fan, aber nach dem Vispero alles aufgekauft hat, was nicht bei 3 auf den Bäumen war, Window Eyes und die Zoom-Software MAGic ausgeknipst hat, würde ich dieser Software nicht mehr über den Weg trauen. Wenn man mit Jaws nicht mehr genügend Kohle verdienen kann, wird man hier ganz schnell den Stecker ziehen.
Die Gefahr geschlossener Systeme bezüglich der Barrierefreiheit besteht darin, dass man von dem Good Will eines teils eratischen Managements abhängig ist. Apple, Google und Microsoft haben in den letzten Jahren Milliarden Euro verdient und sind an die Gesetze der USA gebunden, wenn sie dort Software verkaufen wollen. Aber wie viel Geld werden sie in die Weiterentwicklung der Barrierefreiheit stecken, wenn die Gewinne geringer werden oder das Management wechselt? Ein eratischer Milliadär hat Twitter übernommen und das komplette Accessibility-Team gefeuert. Bei anderen Social-Media-Plattformen sprudeln die Gewinne nicht mehr so üppig wie zuvor, wann werden sie ihre Bemühungen zur Barrierefreiheit reduzieren?
Nun stimmt es, dass OpenSource nicht automatisch barrierefrei ist. Über Linux höre ich Unterschiedliches, aber es ist auf jeden Fall eine große Umstellung, auf Linux umzusteigen. LibreOffice hat die Barrierefreiheit ein wenig vernachlässigt, weil entsprechend qualifizierte Entwickler:Innen gefehlt haben. Als Blinder bin ich mit Android eher semi-zufrieden.
Dennoch glaube ich, dass die Zukunft der Barrierefreiheit in OpenSource liegt. Zu oft haben wir gesehen, dass Systeme gekauft und geschlossen oder Konkurs gegangen sind und dann nicht mehr gepflegt oder weiterentwickelt werden. Das kann vor allem bei medizinischen Produkten problematisch sein, die dann vor ihrer Zeit defekt werden. Entwickelt ein Hörgeräte-Hersteller seine Produkte nicht mehr weiter, können die Geräte irgendwann nicht mehr gewartet oder über die Apps gesteuert werden. Die Screenreader werden irgendwann unbrauchbar, weil sie an neue Systeme nicht mehr angepasst werden. Funktionsfähige Hardware wie Braillezeilen müssen entsorgt werden, weil es keine 64-it-Treiber mehr gibt und das auch niemand machen kann, weil die bestehenden Treiber 32 Bit und closed sind. Ein bekannter Hersteller elektronischer Augenprotesen hat vor einigen Monaten für alle überraschend die Produktion eingestellt.
Eines der großen Rätsel der Menschheit ist, warum die EU nicht auf OpenSource setzt, statt entweder US-amerikanischen Anbietern hinterherzurennen oder verzweifelt zu versuchen, Mini-Microsofts, Apples und Googles herbeizuklonen.
Das Schöne ist, dass wir die Barrierefreiheit bei OpenSource noch steuern können. Seien wir mal ehrlich, Apple oder Google interessieren sich einen Sch*** für unsere Kommentare, es sei denn, es kommen Tausende oder zumindest eine prominente Person. Bei OpenSource können wir uns in den entsprechenden Gruppen einbringen und wir können mit Spenden beitragen, dass es weitergeht.
Why digital Accessibility should be based on Open Source

Warum Sie als Sehender nicht mit Screenreadern testen sollten

Stilisierte Radiowellen stralen nach links und rechtsIn diversen Anleitungen sehe ich wie nebenbei, dass der Screenreader NVDA für Tester:Innen empfohlen wird. Es ist aber eher zweifelhaft, dass ein Sehender einen Screenreader flüssig zu bedienen lernt, vor allem nicht nebenbei. Die einziegen Leute, denen ich das zutraue sind Trainer:Innen für Screenreader-Nutzende. Und selbst die würden häufig den ultimativen Test nicht bestehen: Schalten Sie den Bildschirm ab und bedienen Sie Ihren Computer komplett blind.
Es spricht leider für die Arroganz vieler Sehender, dass sie ihre diesbezüglichen Fähigkeiten überschätzen. Trotz Sehrest käme ich nie auf die Idee, ich könnte die Usability oder Ästhetik einer grafischen Benutzeroberfläche beurteilen. Aber viele Sehende glauben, weil sie NVDA installieren oder VoiceOver starten können, sie könnten die Benutzbarkeit einer Anwendung für Blinde beurteilen.

Den Screenreader-Output verstehen

Der Output eines Screenreaders lässt sich in zwei Bereiche einteilen. Da ist zum Einen die Ausgabe von sichtbarem Text. Zum Anderen gibt es aber auch etwas, was man als Meta-Daten bezeichnen kann. Das Wort „Neu“ zum Beispiel bringt ohne Meta-Kontext nichts. Ist das ein Text, ein Button, ein Element mit einem Untermenü, ein Radiobutton? Ist es fokussiert oder nicht, ist es aktiviert, aktivierbar oder nicht aktivierbar? Diese Informationen werden dem Blinden im besten Fall alle zusätzlich zum Wort „Neu“ vorgelesen.
Geübte Blinde nehmen diese Information mehr oder weniger nebenbei wahr. Es ist vergleichbar mit der Art, in der Sehende visuelle Komponenten einer Benutzeroberfläche wahrnehmen. Sie erkennen die Art eines Elements an deren visueller Gestaltung, ihren Status und ob sie aktivierbar ist oder nicht. Ist die Oberfläche gut gestaltet, müssen Sie darüber nicht nachdenken.
Da einem Blinden die visuelle Gestaltung unzugänglich bleibt, ist er darauf angewiesen, dass ihm diese Information zusätzlich kommuniziert wird.
Nun macht es selten Sinn, das ausführlich zu beschreiben. Wir müssen mit einem gewissem Maß an Grundrauschen klar kommen, aber ab einem bestimmten Level ist es schwierig, dies auszublenden. Man braucht also eine möglichst kurze und kompakte Zusammenfassung.
Die Sprachausgabe bzw. der Braille-Output ist abstrakt und zwar sowohl für Sehende als auch für frisch Erblindete bzw. Blinde ohne große Screenreader-Erfahrung.

Sehende sehen, was Blinde nicht wahrnehmen

Sehende sind selten konsequent oder geduldig genug, eine Anwendung per Tastatur zu erkunden. Zudem können sie ihren Instinkt, doch hinzusehen nicht ablegen.
Nehmen wir ein simples Beispiel: Bei der Webversion von GMail werden die Aktionen erst eingeblendet, wenn man eine Mail angehakt hat. Diese Buttons tauchen aber vor der eigentlichen Anwendung auf. Ein Sehender sieht das natürlich, ein Blinder bekommt das aber nicht mit bzw. würde er nach der Mailliste danach suchen.

Betriebsblindheit von Sehenden

Hinzu kommt auch das Problem der doppelten Betriebs-Blindheit, wie man es nennen könnte.
Zum Einen sind es häufig die Entwickler:Innen selbst, die testen. Wenn es aber nicht gerade Testprofis sind, sind sie selten neutral. Sie wissen, was passieren bzw. was ausgegeben werden soll. Die Nutzer:In hingegen wird das nicht wissen.
Zum Anderen ist man den Projekten anderer Personen gegenüber oft kritischer als gegenüber den eigenen Projekten. Ein Test sollte immer von jemandem durchgeführt werden, welcher der Sache selbst gegenüber neutral bis kritisch ist.

Optimierung für den Test-Screenreader

Leider neigen die Tester:innen dazu, für einen bestimmten Screenreader zu optimieren, weil sie eben diesen zur Verfügung haben, meistens Jaws.
Das bringt aber den Nutzer:innen von NVDA und VoiceOver reichlich wenig. Der grösste Bullshit der letzten Zeit ist Jaws Connect, eine Möglichkeit für Jaws-Nutzende, Probleme mit Jaws und der jeweiligen Applikation zu melden. M.E. ist das schlimmer als Overlays.

Testen Sie mit mehreren Screenreadern – ernsthaft?

Immer öfter hört man die Forderung, dass sogar mit mehreren Screenreadern getestet werden soll. Na klar, die Sehenden kommen schon mit einem Programm nicht zurecht, dann sollen sie es gleich mit mehreren versuchen und die Unterschiede kennen und verstehen. Welche dürfen es sein: Jaws, NVDA, Narrator unter Windows, VoiceOver unter Mac und iOS, Talkback unter Android – das wäre das Minimum. Im Grunde müsste man sich zumindest bei Jaws auch mehrere Versionen anschauen, da ja nicht alle die aktuelle Version nutzen. Bei iOS kann es auch Unterschiede in der Entwicklung zwischen iPad und iPhone geben.
Last not least müsste zumindest jeder Screenreader einmal mit einem Chromium-basierten Browser und Firefox getestet werden. Auf dem Mac müssten es sogar Firefox, Safari und ein weiterer Chromium-basierter Browser sein.
Welcher Sehende beherrscht all diese Plattformen und Screenreader ausreichend, um valide Ergebnisse zu bekommen? Und wer hat überhaupt die Geduld dazu?
Das scheint mir mehr Beschäftigungs-Therapie als ernsthaftes Testen zu sein. Eine Frage dazu hätte ich: Warum überlässt man das nicht den Profis, also geschulten Blinden, die in der Nutzung von Screenreadern erfahren sind, und das wesentlich besser könnten?

Warum Screenreader und nicht eine andere assistive Technologie?

Aus irgendeinem Grund gelten Blinde als besonders wichtig, oft sind sie die einzige Gruppe, die im Kontext Barrerefreiheit erwähnt wird. Aber warum? Warum nicht die zahlenmäßige größere Zahl der Sehb- oder motorisch Behinderten? Warum nicht kognitiv Behinderte? Und warum sollte man mit Screenreadern testen und nicht zum Beispiel mit der Bildschirmlupe, dem Hoch-Kontrast-Modus oder der Sprachsteuerung?

Fazit

Wie oben erwähnt sind die meisten Sehenden nicht in der Lage, einen PC so zu bedienen, wie es ein Blinder tun würde. Sich einmal durch eine Website durchzutaben ist keine Kunst. Aber welche Sehende kann schon blind ein Formular ausfüllen. Also gucken sie hin oder noch schlimmer, testen mit der Maus. Was dabei rauskommt ist bestenfalls suboptimal.
Aus dem gleichen Grund würde ich auch nicht auf Tests vertrauen, die von frisch Erblindeten oder wenig Screenreader-erfahrenen Personen durchgeführt werden. Sie kämpfen noch mit den Macken des Screenreaders und haben deshalb keine Einschätzung darüber, wie gut die Test-Objekte sind.
Die Verwendung eines Screenreaders kann sinnvoll sein, um ein Gefühl für die Arbeitsweise von Blinden zu gewinnen. Zum Testen durch ungeübte Personen sind sie jedoch ungeeignet.

Zum Weiterlesen

Barrierefreiheit hat ohne Automatisierung keine Chance

Automatische Barrierefreiheit ist teilweise zurecht in Verruf geraten. Das liegt vor allem an den sogenannten Accessibility Overlays, welche meistens nichts zur Barrierefreiheit einer Website beitragen, sie aber oft sogar verschlechtern.
Mein Eindruck ist allerdings auch, dass viele Personen strukturkonservativ sind bzw. befürchten, dass sie Aufträge durch Automatisierung verlieren könnten. Man sieht das deutlich an der Übersetzungs-Branche. Tools wie DeepL oder der Google Übersetzer sind in den letzten Jahren für Texte in Alltagssprache immer besser geworden. Fachtexte sind ein anderes Thema.
Ja, es gibt grottenschlechte Übersetzungen, die schlechter sind als die wortwörtlichen Übersetzungen von Tools aus den späten 90ern. In derRegel geht es aber um Nutzwert-Text, nicht um literarische Qualität.
Und wir brauchen gute Übersetzungs-Werkzeuge. Es gibt halt Menschen, welche die Originalsprache nicht gut genug verstehen. Gleichzeitig gibt es aber die Notwendigkeit für viele Menschen, Texte in anderen Sprachen zu verstehen.
Analoge Probleme finden wir in der Barrierefreiheit. In den nächsten Jahren wird der Bedarf an Prüfungen drastisch steigen, wenn es einige Unternehmen mit der Barrierefreiheit ernst nehmen. Meinens Erachtens ist die Prüfroutine, wie sie sich heute etabliert hat mit den aufgeblasenen BITV-Tests nicht zielführend. Die tausende Personentage, die da reingesteckt werden, lassen sich auch sinnvoller verwenden. Aktuell ist der Ablauf so: Wir machen es falsch, lassen es testen, machen es ein bisschen weniger falsch, lassen es testen und immer so weiter.
Ohne Automatisierung werden wir kaum eines der Ziele der Barrierefreiheit erreichen. Entwickelnde und Designende benötigen Werkzeuge, die direkt in ihre Workflows integriert sind und ihnen helfen, Fehler zu vermeiden, sie zu erkennen und zu beheben. Wir brauchen Speech-to-Text-Enginges, die Filme automatisch untertiteln oder Podcasts in Text umwandeln. Wir brauchen Tools, welche es auch Laien ermöglichen, verständlichere Texte zu schreiben.
Mit den heutigen Ressourcen ist es nicht möglich, so viele Barrierefreiheits-Profis zu schaffen, wie wir sie bräuchten. Es gibt zu wenig Nachwuchs – wie viele Profis unter 35 kennen Sie – und die Nicht-Barrierefreiheits-Profis sind schon damit beschäftigt, in ihrer eigenen Disziplin auf dem Laufenden zu bleiben.
Was wir aktuell zu spüren bekommen ist weniger der Mangel an Fachleuten für Barrierefreiheit. Wir haben insgesamt einen Mangel an menschlicher Arbeitskraft und finanziellen Mitteln. Der Gedanke ist absurd, dass es immer noch Leute gibt, die manuell Dinge tun, die man völlig automatisiert erledigen könnte.
Nun behauptet keiner, dass Automatisierung alle Probleme löst. Wir brauchen auf jeden Fall noch bessere Tools. Ich habe allerdings schon lange vorgeschlagen, die drei Methoden Automatisierung, heuristische Experten-Analyse und Feedback von Nutzenden kombiniert zu verwenden.

Technik wird nicht alle Probleme lösen

Gleichzeitig sei vor naivem Technik-Optimismus gewarnt. Es gibt zwei Arten von Vorhersagen: Realistisch und utopistisch. Realisten schreiben im Prinzip aktuell vorhandene Entwicklungen einfach fort: Computer werden ein wenig schneller, Autos ein wenig sparsamer und so weiter. Utopisten versuchen vorauszusehen, was es noch nicht gibt. Häufig folgen sie einem naivem Zwangs-Optismus, erkennbar an der aktuellen Umweltpoliti. Ersetzen wir alle Verbrenner-Autos durch Elektro-Autos, schaffen die fossilen Energien für das Heizen ab und heizen nur noch mit Strom, werden wir gewaltige Mengen an Strom und Speicher-Kapazitäten benötigen. Diese sind mit der aktuellen technischen Innovation nicht zu schaffen.
Genausowenig werden wir technische Lösungen entwickeln, die alle heutigen Barrierefreiheits-Probleme lösen. Zumindest nicht in der Lebenszeit der heutigen Erwachsenen.

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