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Wie werde ich Spezialistin für digitale Barrierefreiheit?


In angloamerikanischen Ländern gehören sie vielerorts dazu, in Deutschland sind sie seltener als Einhörner: Expertinnen für digitale Barrierefreiheit. Aber was sollte so ein Accessibility Specialist eigentlich mitbringen? Das wollen wir uns in diesem Beitrag anschauen. Wenn Sie eine Barrierefreiheits-Expert:In einstellen möchten, hilft Ihnen vielleicht das Accessibility Skills Hiring Toolkit. Oder suchen Sie einen kompetenten Dienstleister zu barrierefreien PDF und Webseiten?

Generelle Anforderungen

Es gibt Fähigkeiten, die jeder Mensch benötigt, der im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik arbeitet. Die Fähigkeit, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten, sich Fachbegriffe anzueignen, die Qualität von Informationen zu beurteilen und natürlich auf dem Laufenden zu sein, was Entwicklungen angeht. Der Wandel der Technik hat sich in den letzten Jahren rasant beschleunigt – außerhalb der Barrierefreiheit, versteht sich. Aber das muss man natürlich mitbekommen, wenn man sich mit barrierefreier Technik beschäftigt.
Ein gutes Verständnis von technischem Englisch ist unabdingbar. Nur wenige relevante Informationen erscheinen – zumeist mit Verspätung – auf Deutsch. Die meisten relevanten Diskurse finden auf Englisch statt.

Besondere Anforderungen der digitalen Barrierefreiheit

ein konzeptionelles Verständnis von Behinderungen und den daraus erwachsenen Barrieren ist wichtig. Barrierefreiheit ist mehr als Sprachausgabe, Bildschirm-Lupe, Kontraste und Alternativtexte.
Erforderlich ist ein solides Grundwissen der Gesetzgebung und der Richtlinien. Der Wust aus nationalen und Länder-Gesetzen, Industrie-Normen und informellen Vorgaben ist schwer zu durchschauen.
Ein technisches Grundwissen ist wichtig, z.B. ein Grundverständnis von HTMl und seiner Funktionsweise, ohne HTML versteht man weder Screenreader noch ARIA. In der SoftwareEntwicklung muss man die Accessibility APIs kennen, zumindest für das Betriebssystem, für welches man entwickelt.

Besonderes Fachwissen

Wichtig ist, in welchem Bereich man arbeitet, ein Entwickler benötigt anderes Wissen als eine Projektmanagerin, ein Kommunikations-Verantwortlicher anderes Wissen als eine Redakteurin. Wer wiederum Dokumente barrierefrei machen möchte, muss über ARIA oder CSS weniger gut Bescheid wissen.
Erfüllt man Schnittstellen-Funktionen, etwa als Projektmanagerin oder Berater für Kunden, muss man vor allem übersetzen können. Der Kunde möchte – manchmal – verstehen, warum etwas auf eine bestimmte Weise gemacht werden soll oder warum eine bestimmte Weise problematisch sein kann. Die Entwickler:Innen benötigen klare Hinweise auf die Umsetzung oder zumindest darauf, was falsch läuft und was das erwartete Verhalten ist.
Je nach Organisation muss man sich auch darauf einstellen, der Buhmensch zu sein. Man muss etwa intervenieren, wenn das fein austarierte grafische Konzept unzureichende Kontraste aufweist oder die Tastatur-Bedienung in einer bestimmten Ecke nicht funktioniert. Manche kommen mit dieser Rolle besser klar als Andere. Auf jeden Fall ist das einfacher, wenn man außerhalb einer Organisation steht.
Hier stellt sich die Frage, ob man eine Art Universalgenie in all diesen Dingen sein muss. Ich selbst kenne nur eine Handvoll Leute, die sich mit Internet und PDF gleichermaßen gut auskennen. Das Ganze wird auch dadurch erschwert, dass alle Themen für sich immer spezieller werden. Das Universal-Genie wird auch in der Barrierefreiheit eine aussterbende Gattung.

Wie werde ich Accessibility Specialist

Aktuell gibt es in Deutschland und auch international nur wenige Fortbildungs-Möglichkeiten und keinen vollständigen Studiengang Zu diesem Thema. In der Regel absolviert man eine Ausbildung oder ein Studium in einem bestimmten Fach und eignet sich danach das Fachwissen über Barrierefreiheit an.
Beispiel: In aktuellen Stellenausschreibungen zur Barrierefreiheit aus den USA werden vor allem User Experience-Personen gesucht. In Deutschland sind es primär IT Consultants und Software-Entwickler.

Was verdiene ich als Barrierefreiheits-Specialist

Weil das Fach sehr vielfältig ist, sind auch die Verdienste sehr unterschiedlich. Da man in der Regel ein Fachstudium oder eine Ausbildung absolviert hat, orientieren sich die Gehälter an dem, was man mit dem Studium oder der Ausbildung ohnehin verdienen würde. Zwar sind die Specialists noch Mangelware, aber noch nicht so stark, dass man hierfür hohe Aufschläge verlangen kann.
Danach hängt es vom Grad der Spezialisierung ab. Tester:Innen mit entsprechender Qualifikation rangieren etwa auf dem Niveau von technischen Redakteur:Innen oder UX Specialists. Erfahrene Web-Entwickler:Innen können schon ein wenig mehr verdienen.
Der Gold-Standard sind Software-Entwickler:Innen, insbesondere, wenn sie exotische Produkte oder Programmiersprachen beherrschen. Es gibt einfach zu wenige Programmier:Innen mit Barrierefreiheits-Fähigkeiten, deshalb kann man hier durchaus noch mal ordentlich drauflegen auf ein ohnehin schon üppiges Software-Entwickler-Einkommen.

Expert:Innen in eigener Sache – aber auch nicht mehr

Ein häufig anzutreffendes Mißverständnis gerade bei vielen Blinden ist der Irrglaube, man kenne sich mit Barrierefreiheit aus, weil man blind sei. Nach der Argumentation sind alle Weintrinker Wein-Experten und ein Supermarkt-Kunde ist ein Experte für Waren-Logistik.
Sicher ist jede Behinderte Expert:In in eigener Sache. Darüber hinaus wird es aber schwierig. Es gibt Blinde, die recht gut die Situation anderer Blinder einschätzen können. Anderseits sehe ich nur bei wenigen Blinden, die über Barrierefreiheit schreiben, dass sie sich mit anderen Behinderungen beschäftigt haben. Für einen Geburts-Blinden dürfte es recht schwierig sein, die Situation einer Sehbehinderten oder Autist:Innen einzuschätzen.
Deshalb sollte man bei der Einschätzung durch Expert:Innen in eigener Sache stets vorsichtig sein. Das ist kein Plädoyer gegen Tests durch Nutzer:Innen, aber man muss solche Einschätzungen stets gewichten. Eine Behinderung macht einen nicht automatisch zum Spezialisten für Barrierefreiheit.

Was gehört nicht zum Experten für Barrierefreiheit?

Eine Expert:In für Barrierefreiheit muss meines Erachtens vor allem ein Grundverständnis über die Funktionsweise assistiver Technologien und deren Grenzen haben. Sie muss aber nicht in der Lage sein, einen Screenreader oder eine Spracheingabe flüssig bedienen zu können.
Eine Expert:In für Barrierefreiheit muss selbst nicht behindert sein. Im Gegenteil, in einigen Fällen kann das sogar hinderlich sein, weil man dann die eigenen Anforderungen überbewertet, so gesehen bei vielen Blinden, die zumindest von sich selbst glauben, von Barrierefreiheit Ahnung zu haben, während sie nur von Screenreadern und Sprachausgaben sprechen.
Natürlich heißt das nicht, dass ein behinderter Mensch kein Experte sein kann, es geht nur darum, dass eine Behinderung zu haben nicht automatisch dazu qualifiziert. Ich suche aktuell nach Möglichkeiten, um behinderte Menschen zu Barrierefreiheits-Expert:Innen zu qualifizieren. Ich freue mich, wenn da jemand Hinweise hat.
Im anglo-amerikanischen Raum gibt es im übrigen viel mehr behinderte Menschen in der Barrierefreiheits-Szene, In Deutschland bleiben sie in aller Regel außen vor.
Meines Erachtens gehört es auch nicht dazu, die Barrierefreiheits-Richtlinien auswendig zu kennen. Die WCAG formulieren einen Minimal-Standard und laufen der technischen Entwicklung leider hinterher.
Wie ich an anderer Stelle schrieb, ist konzeptionelles Wissen wichtiger als die Fähigkeit, Infos auswendig zu lernen. Das kritisiere ich auch an den IAAP-Zertifikaten.

Weitere Infos

Wie schnell können Blinde Braille lesen

Aus verschiedenen Gründen beschäftige ich mich gerade mit Fragen zum Thema lesen. Dabei geht es besonders um das Lesen von Braille. Leider muss ich ein wenig weiter ausholen und hoffe, dass ihr mir bis zum Ende folgt.

150 Wörter pro Minute

Forscher gehen davon aus, dass man mindestens 150 Wörter pro Minute lesen können muss, um von einer ausreichenden Lesegeschwindigkeit zum Lese-Verstehen sprechen zu können. Das klingt viel, aber tatsächlich dürften die meisten von euch deutlich schneller lesen. 150 Wörter pro Minute sollten Schüler bereits nach der vierten Klasse lesen können.
Diese 150 Wörter scheinen der durchschnittlichen Sprechgeschwindigkeit zu entsprechen. 150 Wörter entspricht also der Geschwindigkeit, in der unser Gehirn gesprochene Sprache gut verarbeiten kann.

Lesen ist nicht gleich Verstehen

Dabei muss man zwei Vorgänge unterscheiden:

  • Das Lesen ist an sich ein rein physischer Vorgang. Ich könnte auch einen italienischen Text problemlos lesen – eine Sprache, die ich nicht einmal im Ansatz beherrsche. Ebenso würde es mir aber auch mit einem Fachbeitrag aus der Mathematik ergehen. Ich kann zwar die Worte entziffern, grammatikalische Strukturen erkennen und vielleicht sogar erraten, worum es geht. Aber verstehen ist das nicht.
  • Der zweite Vorgang ist das eigentliche Verstehen des Gelesenen. Ich spreche deshalb von Lese-Verstehen.

Interessant daran ist, dass sowohl zu schnelles als auch zu langsames Lesen das Verstehen verhindern kann. Nehmen wir das oben genannte Beispiel eines Mathe-Textes. Klar kann ich die Zeichen schnell entziffern. Doch ob etwas hängen bleibt, ist fraglich.
Lese ich andererseits zu langsam – zum Beispiel Zeichen für Zeichen – werde ich den Text auf Wortebene erfassen, aber schon bei etwas komplexeren Sätzen werde ich schon den einzelnen Satz nicht mehr verstehen. Und das gilt im Prinzip für jeden Text, der über dem Niveau der zweiten Klasse liegt.
Um Vergnügen am Lesen zu haben, muss der physiologische Vorgang des Erfassens von Zeichen vollständig in den Hintergrund treten. Das heißt, ich muss mühelos lesen können, um mich komplett mit der Verarbeitung des Gelesenen beschäftigen zu können. Ist das nicht der Fall, werde ich nie etwas freiwillig lesen. Das heißt aber umgekehrt: Je weniger ich lese, desto weniger Routine kann ich entwickeln.

Das Scheitern am Verstehen

Ein Großteil der funktionalen Analphabeten kann tatsächlich auf Wortebene lesen, scheitert aber an komplexeren Strukturen wie Sätzen, Absätzen und Abschnitten. Versteht man diese nicht, versteht man den ganzen Text nicht. Interessant wäre in diesem Zusammenhang, ob die Betroffenen die gleichen Inhalte verstehen würden, wenn sie ihnen vorgelesen werden. Dazu habe ich leider keine Infos.
Wie ich schon mal erzählt habe, habe ich fast 20 Jahre lang kein Braille mehr gelesen. Vor ein paar Jahren habe ich wieder damit angefangen. Obwohl ich sowohl Braille als auch die Schwarzschrift im Grundsatz beherrsche, bin ich am Anfang meines Braille-Abenteuers zuerst auf Wort- und dann auf Satzebene gescheitert. Ich konnte die einzelnen Wörter lesen, aber ich hatte Probleme, den Satz zu einem Ganzen zusammen zu setzen. Ich kenne also das Problem aus eigener Erfahrung.
Für uns relevant ist, dass Sehbehinderte und Blinde aus ähnlichen Gründen vor dem gleichen Problem stehen. Fangen wir mit den Blinden an.

Lesen auf Zeichenebene

Blinde lesen bekanntlich mit dem Finger. Sehende erfassen Zeichengruppen, Worte und ganze Phrasen mit einer einzigen Augenbewegung. Nur deshalb sind hohe Lesegeschwindigkeiten möglich. Blinde hingegen sind nicht in der Lage, über den aktuellen Fokus ihres Fingers hinauszusehen. Die einzige Möglichkeit, die mir einfallen würde wäre, mit mehreren Lesefingern zu arbeiten. Bei mir zumindest hat das nicht funktioniert.
Vor allem für Braille-Lese-Anfänger ist die Schwelle sehr hoch. Sie müssen zum einen die Zeichen lernen. Parallel müssen sie die nötige Sensibilität in den Fingern ausbilden. Und sie müssen möglichst früh erste Erfolgserlebnisse haben, da sie sonst schnell frustriert sind.
Sind erst einmal alle Zeichen gelernt, müssen sie regelmäßig lesen, um eine halbwegs annehmbare Lesegeschwindigkeit zu erreichen.
Dennoch schaffen Blinde nur rund 60 bis 80 Wörter pro Minute. Geübte Braille-Leser schaffen zwischen 100 und 150 Wörter pro Minute. Sie erreichen also gerade einmal die Mindestschwelle dessen, was in der 4. Klasse als wünschenswert gilt. Die Studie entstand zu einer Zeit, wo Braille an den Schulen noch eine wesentlich größere Rolle gespielt hat als heute. Das heißt, die getesteten Personen dürften wesentlich mehr Leseerfahrung haben als heutige Schüler oder erwachsene Blinde.
Das Fatale an der Sache ist, dass Blinde wiederum mehr Zeit brauchen als Sehende. Ich habe als Schüler noch mit meinem kläglichen Sehrest und Schwarzschrift gearbeitet. Meine Lesegeschwindigkeit war nie besonders gut. Doch musste ich mich zumindest nicht mit meterhohen Papierstapeln abschleppen wie meine blinden Mitschüler. Unser Geschichtslehrer hatte ein großes Vergnügen daran, enorme Textmengen zu verteilen.
Die blinden Mitschüler mussten also viel mehr Zeit für das Lesen dieser Dokumente aufwenden als ihre sehbehinderten oder gar die sehenden Mitschüler. Im Studium oder Arbeitsleben schaut es nicht besser aus.
Sehbehinderte stehen aus anderen Gründen vor ähnlichen Problemen. Bei starker Vergrößerung oder bei einem kleinen Gesichtsfeld können sie oft nur kurze Worte oder Wortbestandteile auf einen Blick erfassen. Mit ein wenig Leseerfahrung können sie Wörter erraten oder andere Tricks anwenden. Aber schnelles oder angenehmes Lesen ist so kaum möglich.

Das Problem ist mit Braille nicht lösbar

Nun wissen wir, dass Lesen heute essentieller Teil fast jeder Jobbeschreibung ist. Jenseits von Höchstleistungen besonders effizienter Leser ist es aber schon physiologisch nicht möglich, als normaler Blinder Geschwindigkeiten wie ein Sehender zu erreichen.
Eine Möglichkeit ist theoretisch, die Brailleschrift weiter zu komprimieren. Wir haben ja schon die Kurzschrift, bei der geläufige Wörter und Texteile in einzelnen Zeichen zusammengefasst werden. Dadurch können bis zu 30 Prozent an Platz eingespart werden. Für geübte Leser erhöht das auch die Lesegeschwindigkeit. Daneben gibt es ein Braille-Steno, das wohl früher von blinden Schreibkräften verwendet wurde.
Das Problem dabei ist, dass natürlich der Lernaufwand noch einmal steigt. Im Prinzip muss eine neue Schrift gelernt und eingeprägt werden. Da es kaum Texte in Braille-Steno gibt, könnten die Leser auch nur auf elektronische Texte zurückgreifen, die von einem Programm automatisch in Braille-Steno übersetzt werden. Ob uns das die Lesegeschwindigkeit eines Sehenden bringt, weiß ich leider nicht.
Es bleibt uns also kaum etwas übrig, als die Sprachausgabe zu bevorzugen. Sie hat ihre eigenen Nachteile, die ich vielleicht ein anderes Mal behandeln werde. Sie ist aber tatsächlich die beste Möglichkeit, eine adäquate und alltagstaugliche Lesegeschwindigkeit zu erreichen. 300 Wörter pro Minute sind mit der Sprachausgabe mühelos erreichbar.

Wenn Hilfsmittel von der Community entwickelt werden

Viele Menschen mit Behinderung benötigen Hilfsmittel im Alltag oder zur Nutzung eines Computers. Einige Hilfsmittel erleichtern bestimmte Aufgaben, andere Technologien sind unverzichtbar.
Leider sind viele Hilfsmittel für Privatpersonen unerschwinglich. Ein Screenreader – das ist ein Programm, mit dem Blinde ihren Computer bedienen können – kostet zwischen 2.000 und 3.000 Euro. Ein Braille-Display, das Inhalte des Computers als Blindenschrift ausgibt kostet bis zu 10.000 Euro. Deshalb sind Menschen mit Behinderung oftmals mit veralteter Technik oder Software konfrontiert, während ihnen neue Funktionen oder bessere Hilfsmittel vorenthalten bleiben.
Hinzu kommt, dass Hilfsmittelentwickler Innovationen nur langsam aufgreifen. Der Markt ist relativ klein, die Entwicklungskosten relativ hoch.
Vieles ist heute möglich, was noch vor fünf Jahren undenkbar war. Viele Smartphones und Tablet-PCs haben zum Beispiel Schnittstellen für Hilfstechnik wie Sprachein- und ausgaben integriert, auf denen die Entwickler aufbauen können.
Die Behinderten-Communities selbst haben heute Möglichkeiten, zur Entwicklung besserer Hilfstechnik beizutragen. Zwei dieser Möglichkeiten wollen wir hier vorstellen: das klassische Spendenwesen und das Crowdfunding.

Spendenfinanzierung

Vor allem OpenSource-Projekte finanzieren sich über Spenden. Während sich viele Entwickler praktisch ehrenamtlich engagieren, entstehen trotzdem Kosten für Geräte, Entwicklungsumgebungen und vieles mehr, die über spenden von der Community mitfinanziert werden können. Ein Beispiel dafür ist der kostenlose Screenreader Nonvisual Desktop Access (NVDA). Er ist der einzige offene und kostenlose Screenreader für Windows-Systeme und in einigen Bereichen der kommerziellen Konkurrenz überlegen. NVDA ist ein klassisches OpenSource-Projekt, jeder, der Zeit und Interesse hat kann an seiner Weiterentwicklung mitwirken. Wer nicht über die nötigen technischen Kenntnisse verfügt, kann das Projekt mit einer Spende unterstützen.

Crowdfunding – der Schwarm bezahlts

Crowdfunding bedeutet, dass der Schwarm die Finanzierung eines Projektes übernimmt. Es ist ein Kunstwort aus Crowd = Masse und Fundraising = Spenndensammeln und leitet sich von Crowdsourcing ab. Während beim Crowdsourcing der Schwarm kleine Aufgaben übernimmt, um ein großes gemeinsames Ziel zu erreichen finanziert der Schwarm beim Crowdfunding die Umsetzung kleinerer oder größerer Projekte.
Möchte man etwa eine App entwickeln, die Menschen mit Behinderung hilft, hat aber weder das nötige Geld noch das technische Know-How, könnte man über ein Crowdfunding-Projekt die entsprechenden Gelder akquirieren, um einen Programmierer für die Entwicklung zu bezahlen. Für Crowdfunding gibt es spezielle Plattformen wie Kickstarter.com.
Der typische Ablauf für ein Crowdfunding-Projekt sieht so aus: Der Entwickler hat eine Idee, die er auf einer Crowdfunding-Plattform vorstellt. Er legt außerdem fest, wie viel Geld er über die Plattform erhalten möchte und wie lange er um Unterstützung auf der Plattform werben möchte. Der Unterstützer bietet einen Beitrag seiner Wahl zur Unterstützung an. Wenn die nötige Summe in der anvisierten Zeit erreicht wird, erhält der Entwickler das Geld und kann mit der Umsetzung seiner Idee beginnen. Kommt die erhoffte Summe nicht zusammen, bekommen die Unterstützer in der Regel das Geld zurück. Die Prozedur kann sich je nach gewählter Plattform unterscheiden. Ähnlich wie beim Sponsoring erhalten die Unterstützer je nach Beitrag gestaffelte Dankeschöns wie die Erwähnung auf der Projektseite oder eine Vorabversion des Projektergebnisses.

Spenden sammeln versus Crowdfunding

Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Crowdfunding und Spenden. Spenden werden über einen längeren Zeitraum gesammelt, teilweise sind sie zweckgebunden, überwiegend werden sie aber für die Organisation als solche gesammelt. Außerdem ist das Spendenwesen eine feste Einrichtung, es wird permanent nach Spendern gesucht.
Crowdfunding-Projekte hingegen sind zeitlich begrenzt. Der Crowdfunder versucht, innerhalb einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge Geld für ein ebenfalls zeitlich begrenztes Projekt zu erhalten. Er kann vorhandene Plattformen nutzen und muss keine spezielle Spendenorganisation aufbauen.
Beiden Finanzierungsformen gemein ist, dass auch schon relativ kleine finanzielle Beiträge zum Erfolg eines Projektes beitragen können. Um zum Beispiel 10.000 Euro zu erhalten müssten rund 1.000 Personen durchschnittlich 10 Euro spenden. Natürlich muss dafür ein wenig Marketing betrieben werden, Crowdfunding ist keinesfalls ein Selbstläufer. Außerdem muss die Community auch bereit sein, die Projekte auch finanziell und nicht nur ideell zu unterstützen. Dabei entfaltet das Internet seinen Reichweitenvorteil: mit guten Projektideen lassen sich viele tausend potentielle Unterstützer erreichen.
Crowdfunding ist deshalb vor allem für kleinere Projekte interessant, die von den Hilfsmittelanbietern nicht angegangen werden, weil sie nicht genügend Gewinn abwerfen oder die Zielgruppe als zu klein eingeschätzt wird. Oft werden die Projekte nach ihrer Beendigung als OpenSource an die Community übergeben, so dass sie von ihr weiterentwickelt werden können.

Fazit

Die community-finanzierte Entwicklung von Hilfsmitteln wird die klassische Hilfsmittelversorgung ergänzen und nicht ersetzen. Vor allem durch die Alterung der Gesellschaft ist absehbar, dass ehr viel mehr Menschen günstige und einfach bedienbare Hilfsmittel benötigen werden. Durch Spenden und Crowdfunding kann jeder ein Stück dazu beitragen, das solche Hilfsmittel entwickelt werden.
Barrierefrei mit WordPress
WordPress und Barrierefreiheit

Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz – warum die Bundesregierung der Wirtschaft schadet

einkaufswagenNun ist es doch da, das neue Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz. Die Defizite des European Accessibility Act und deren deutscher Umsetzung sind an anderer Stelle schon ausgeführt worden, das muss ich hier nicht wiederholen. Hier erfahrt ihr, warum Deutschland der heimischen Wirtschaft damit keinen Gefallen getan hat.

Eine Regierung des Stillstandes

Wir haben eine mut- und innovationsfreie Bundesregierung, im Grunde haben wir seit der Regierung Merkel I einen großen Stillstand. Wenn sie nicht gerade durch äußere Umstände gezwungen wurde, hat die Bundesregierung kein großes Thema angepackt. Wo sie es doch getan hat, war die Situation oft nur wenig besser als vorher – siehe Bundesteilhabegesetz. Das ganze Schema des Versagens sieht man in anderen Bereichen wie dem Klimaschutz oder der Digitalisierung. Meines Erachtens geht es hier also nicht so sehr darum, dass Behinderte bewusst ausgegrenzt werden, wie in anderen Kommentaren zu lesen. Es ist das Gleiche passiert wie bei so vielen anderen Gesetzes-Vorhaben – mangelndes Interesse, geringe Ambitionen und Ministerien, die viel Bürokratie ohne nachhaltige Wirkung produzieren. Vielleicht muss man aber auch glücklich darüber sein, dass die CDU im Wesentlichen den Status Quo verwaltet, wenn man sieht, welche unsozialen Reformen der aktuelle Gesundheitsminister Spahn auf den Weg gebracht hat.

Deutschland wird wirtschaftlich abgehängt

Viele große Märkte, insbesondere der gesamte anglo-amerikanische Raum – haben strengere Gesetze zur Barrierefreiheit als Deutschland. Selbst innerhalb der Europäischen Union steht Deutschland in einigen Bereichen deutlich schlechter da als andere Staaten. So hat Österreich härtere Richtlinien zur Barrierefreiheit auch für die Privat-Wirtschaft.
Leider habe ich keinen Vergleich der Barrierefreiheits-Richtlinien in den einzelnen Ländern der Welt gefunden. Falls jemand da einen heißen Tipp hat, freue ich mich. Allerdings kann man davon ausgehen, dass viele der Wachstums-Märkte wie China, Indien, Russland, die Staaten Lateinamerikas und im Nahen Osten ebenfalls zumindest Basis-Anforderungen der Barrierefreiheit gesetzlich verankert haben bzw. es noch tun werden. Hier spielt der Druck durch die sozialen Bewegungen und der Wunsch nach Legitimität eine große Rolle.
Der große Marktfaktor überhaupt ist der demografische Wandel. Er trifft das gesamte Europa, Japan, China, Russland und etwas schwächer die beiden Amerikas. Man hat im Bereich barrierefreier Tourismus schon große Fortschritte gemacht. In anderen Bereichen ist man hier allerdings relativ uninnovativ. Es ist anscheinend in der Privat-Wirtschaft noch nicht angekommen oder man sieht die Kosten für Innovationen als zu hoch an. Am Ende werden aber jene profitieren, die hier langfristig gedacht haben.
Nehmen wir ein Beispiel: Deutschland gehört zu den großen Herstellern von Personen-Zügen. Züge können schwellenfrei gebaut werden, so dass man sie in der Regel ohne fremde Hilfe als Rollstuhlfahrende oder Rollator nutzende Person nutzen kann. Aber die Deutsche Bahn und andere Bahnbetriebe kaufen lieber nicht barrierefreie Züge und organisieren eine personal-intensive Mobilitätshilfe. Kein Staat der Welt wird diese Züge aus Deutschland importieren – entweder werden sie angepasst oder man nimmt sie von Unternehmen, die von vorneherein barrierefreie Züge bauen. Wenn deutsche Unternehmen keine barrierefreien Bankautomaten bauen kann, wird man sie eben von Anbietern beziehen, die das können. Wenn die paar international aktiven deutschen Software-Unternehmen ihre Produkte nicht barrierefrei gestalten können, sind sie global nicht konkurrenzfähig.
Barrierefreiheit ist ein interessanter Markt für global agierende Unternehmen möchte man meinen. Für Deutschland allerdings nicht. Die Regierung traut sich nämlich nicht, hier harte Regelungen oder vernünftige Fristen zu setzen. Deutsche Unternehmen werden nicht zu Innovationen gezwungen und verlieren damit den Anschluss an den Weltmarkt.

Deutschland als großer Bremser

Obwohl Deutschland sich immer als Musterschüler vorkommt, ist es in Wirklichkeit das Gegenteil. Immer, wenn ein internationales Gremium wie die EU Gas gibt, tritt Deutschland auf die Bremse. So war es bei den Richtlinien zur digitalen Barrierefreiheit, so war es beim marakesch-Treaty über den Zugang für lesebehinderte Menschen zur Literatur und so war und ist es beim European Accessibility Act. Der European Accessibility Act sollte ursprünglich wesentlich mehr Bereiche umfassen. Es bleibt ein Rätsel, warum etwa das gesamte Thema Bauen, Arbeits-IT oder Haushaltsgeräte schon im Act komplett außen vor bleibt. Der Act war also schon unambitioniert, als er verabschiedet wurde und er wurde noch weniger ambitioniert in deutsches Recht umgesetzt.
Die Bundesregierung glaubt tatsächlich, man würde der heimischen Wirtschaft dadurch einen Gefallen tun. Das mag kurzfristig gedacht tatsächlich zutreffen. Mittelfristig ist es der Todesstoß für eine export-orientierte Wirtschaft. Was glaubt ihr, welche Lösung/Dienstleistung wird ein großer Markt-Teilnehmender einkaufen, der zur Barrierefreiheit verpflichtet ist? Eine Lösung, die von vorneherein barrierefrei ist oder die deutsche Lösung, die nicht barrierefrei ist? Und selbst in der Binnen-Nachfrage spielt Barrierefreiheit eine wachsende Rolle. Hier hat man meistens die Wahl zwischen einer mittelmäßigen deutschen und einer guten Lösung aus dem anglo-amerikanischen Raum. Der deutschen Lösung wird meistens nur aus Datenschutz-Gründen der Vorzug gegebe, nicht, weil sie in irgendeiner Hinsicht besser wäre.
Das gleiche Schema erkennen wir – wie oben erwähnt – im Klimaschutz wieder. Während alle Welt auf Autos mit geringen Emissionen, weniger Kraftstoff-Verbrauch oder gar Elektro-Autos setzt hat Deutschland die entsprechenden Vorschriften verwässert und dazu beigetragen, dass die deutsche Autowirtschaft international weniger konkurrenzfähig ist. Man hat die Wirtschaft auf kurze Sicht geschont, um ihr auf lange Sicht die Konkurrenzfähigkeit zu nehmen.

Fazit

Wie an anderer Stelle erklärt ist Barrierefreiheit natürlich ein Kostenfaktor. Vor allem in Deutschland, wo man mehr Wert auf Formalitäten statt auf innovative Ideen legt. Das Problem reduziert sich aber dadurch, dass alle Markt-Teilnehmenden sich an die gleichen Regeln halten müssen. Alle Unternehmen haben die gleichen Anforderunge, also kann sich keiner einen Vorteil dadurch verschaffen, dass er die Regeln ignoriert. Durch gemeinsame Anstrengungen und Lösungen werden die Kosten für die einzelnen Markt-Teilnehmenden insgesamt reduziert. Bildungs-Einrichtungen werden dazu gezwungen, die Barrierefreiheit in den Unterricht aufzunehmen, da die entsprechenden Kompetenzen überall gebraucht werden.
Anders als Deutschland manchmal zu glauben scheint wartet die Welt nicht auf deren Innovationen. Sie werden halt wo anders gemacht und dann werden Spanien, Italien oder Irland die Leistungen barrierefrei anbieten, die Deutschland wegen seiner Zögerlichkeit nicht entwickeln konnte.

Der Weg über die Gerichte

In den letzten Jahren hat es einige bahnbrechende Gerichtsurteile gegeben. So ist Deutschland jetzt durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen, härtere Maßnahmen zum Klimaschutz zu erlassen.
Möglicherweise ist dies der einzig gangbare Weg: Zum Einen die Bundesregierung durch Klagen zwingen, mehr auf die Barrierefreiheit zu achten. Zum Anderen auch Firmen verklagen, die ihre Software oder andere Produkte nicht barrierefrei machen. Leider ist das in Deutschland schwieriger als in den USA, weil hier das Klagerecht deutlich eingeschränkt ist.
Abgesehen davon sind solche Urteile recht langwierig. Bis man das Bundesverfassungsgericht erreicht, ist viel Sitzfleisch und engagierte Anwält:Innen notwendig. So lange wollen wir eigentlich nicht warten.

Wird barrierefreie Web-Entwicklung zum Mainstream?

Hand gecodete Webseiten erinnern an eine etwas verklärte Zeit. Irgendwie muss ich immer an die Großmutter denken, die am Kamin sitzt und Jäckchen für die kleinen Enkel strickt. Wobei meine Großmutter im tropischen Goa sicher nie an einem Kamin gesessen hat.
Heutzutage kommt man allerdings an Frameworks kaum vorbei. Klar kann man die Website auf dem Desktop betreuen und dann über FTP hochladen. Oder minimalistische Redaktionssysteme verwenden. Doch für moderne Interfaces, die schick, aber auch funktional sein sollen ist das wohl nicht mehr der beste Weg. Wer hat heute noch Ressourcen, ein Akkordeon, eine Flyout-Navigation oder eine Slideshow zu programmieren und sie auf allen möglichen Endgeräten und Browsern zu testen? Die öffentliche IT ganz sicher nicht, eben so wenig wie deren externe Dienstleister.
Nun haben sich die Entwicklerinneninnen dieser Bibliotheken und vieler Redaktionssysteme bisher kaum um Barrierefreiheit gekümmert. Auch für sie war es so anstrengend. Doch der Wind wird sich sehr bald drehen.

Härtere Richtlinien, mehr Betroffene

Ab und zu muss man daran erinnern, dass die BITV nicht erst seit der EU-Direktive 2102 gilt. Die erste BITV wird gerade 20 Jahre alt. Wer sich jetzt erst darum kümmert, hat bisher seine Pflichten sträflich vernachlässigt.
However, die Entwicklung um 2102 hat jetzt einen hohen Grad an Nervosität ausgelöst. Webseiten wirden immer stärker monitort und Barrierefreiheits-Bugs werden nach und nach ausgebügelt. Ein Grund, ungeeignete Frameworks zu entsorgen und durch solche zu ersetzen, die Barrierefreiheit unterstützen.
Nun macht die öffentliche IT einen guten Teil der digitalen Infrastruktur aus. Allein das wäre ein Grund, stärker auf Barrierefreiheit zu achten, um diesen Markt nicht zu verlieren. Aber auch ein Gutteil des Nonprofit-Sektors ist zur Barrierefreiheit verpflichtet. Dies dürfte doch einen guten Teil des Internets betreffen.
Ein aktuelles Beispiel: Der neue BITV-Test fordert die barrierefreie Transformation von Inhalten, heißt, wenn über die Website ein PDF aus einer HTML-Seite erstellt werden kann, muss das resultierende PDF die Barrierefreiheits-Infos aus dem HTML übernehmen. Das kann kaum eine der aktuell angebotenen Bibliotheken zur PDF-Konvertierung.
Natürlich stammen die meisten dieser Frameworks aus dem anglo-amerikanischen Bereich. Dort gibt es auch einen starken Druck vor allem in den USA oder Kanada durch härtere Gesetze und Klagewellen.
Natürlich ist das vor allem für kommerziell vertriebene Frameworks interessant. Doch auch die kostenlosen Anbieter sind sicherlich an einer weiten Verbreitung ihrer Frameworks interessant. Wozu soll man eine Bibliothek weiter entwickeln, die keiner nutzt?

Es wird einfacher, aber nicht einfach

Allerdings wird den Entwicklerinneninnen zwar Arbeit abgenommen. Doch müssen sie sich trotzdem mit Barrierefreiheit beschäftigen. Die Bibliotheken bieten ja schon heute teilweise die Möglichkeit, ARIA oder andere relevante Eigenschaften hinzuzufügen, den Kontrast zu ändern oder den Fokus zu korrigieren.
Oder anders gesagt: Man kann mit einem guten Framework Mist produzieren und mit einem schlechten Framework gute Ergebnisse erzielen.
Doch die Arbeit wird durch gute Frameworks deutlich erleichtert. Tastatur-Bedienung, Fokus-Management, Mindest-Kontraste, ARIA States und so weiter sind wesentlich besser umsetzbar, wenn sie einmal zentral integriert wurden.
Vielleicht sollten wir uns in Zukunft nicht mehr auf einzelne Organisationen stürzen, sondern uns gezielt an die Entwicklerinneninnen der Frameworks wenden. Das dürfte einen wesentlich größeren Impact haben.

Wie groß ist der deutsche Jobmarkt für Barrierefreiheits-Profis?

Wie viele Barrierefreiheits-Profis werden wir der Zeit mit Anfragen überschüttet. Ich habe in den letzten 12 Monaten mehr Angebote geschrieben als in der gesamten Zeit vorher. Zudem habe ich einen guten Teil der Anfragen abgelehnt, größtenteils aus Kapazitätsgründen.

Wie viele Jobs zur Barrierefreiheit gibt es tatsächlich?

Allerdings ist das Bild verzerrt. Schaut man sich den Stellenmarkt für Barrierefreiheits-Profis an – gemeint ist hier nur digitale Barrierefreiheit – gibt es wenig bis kaum Nachfrage nach Expert:Innen.
Richtig, es gibt zahlreiche Ergebnisse, wenn man bei Interamt – der Jobbörse des öffentlichen Dienstes oder Indeed, dem Meta-Jobportal – schaut. Dabei muss man aber alle Ergebnisse rausfiltern, in denen der Begriff „Barrierefreiheit“ irgendwie vorkommt. Es gibt einige Organisationen, die sich zurecht oder unrecht für barrierefrei halten und das in ihre Jobbeschreibung aufnehmen. Zudem muss man alle Stellen rausnehmen, in denen Barrierefreiheit irgendwie vorkommt, also Redakteur:innen, Entwickler:innen, Designer:innen und einige mehr, wo es um unterschiedliche Fähigkeiten geht und der Begriff Barrierefreiheit irgendwo weit unten vorkommt. Man darf davon ausgehen, dass dann Barrierefreiheits-Fähigkeiten auch kein entscheidender Einstellungsgrund sein wird. Gehen wir einmal davon aus, dass noch mal ein halbes Dutzend Stellen irgendwo auf den Jobseiten der Einrichtungen versteckt sind bzw. so formuliert sind, dass sie mit einer einfachen Suche nicht gefunden werden können.
Dann bleiben zu fast jedem beliebigen Zeitpunkt vielleicht fünf Stellen im öffentlichen Dienst übrig. Im privaten Sektor sind es ungefähr ein Dutzend, wenn man Doppel-Aufführungen und mehrere Standorte abzieht ein paar weniger. Für ein Land mit X Kommunen, 16 Bundesländern und unzähligen Bundeseinrichtungen sowie Dutzenden größerer Agenturen und App-Entwickelnden Firmen ist das nicht besonders viel.
Auch die Unternehmen, Hochschulen, Agenturen und viele Einrichtungen mehr scheinen nicht besonders eifrig nach Barrierefreiheits-Expert:Innen zu suchen.
Wo sie es tun sind die Erwartungen häufig übertrieben. Da wird ein Studium der Informatik von jemandem erwartet, der Webseiten auf Barrierefreiheit prüfen soll. Ich habe einige Informatiker:Innen in meinen Kursen gehabt und konnte besser mit HTML und CSS umgehen als diese Personen. Wie so oft im öffentlichen Dienst stehen Angebot und Erwartung in keinem Verhältnis zu dem, was tatsächlich getan werden muss. Die meisten Barrierefreiheits-Expert:Innen sind Quereinsteiger:Innen, würden also die formalen Kriterien nicht erfüllen. Aber ein Informatik-Jungspunt aus der Uni, der nie eine Zeile HTML geschrieben hat würde mit Kußhand genommen. Der würde sich aber nicht auf so eine Stelle bewerben, weil er in der Privatwirtschaft mindestens das Doppelte verdienen kann.
Interessant ist auch, dass die Agenturen, die sich auf Barrierefreiheit spezialisiert haben nicht besonders eifrig nach neuen Mitarbeiter:Innen suchen. Natürlich ist jede Einstellung ein Risiko. Allerdings scheint der Bedarf ja da zu sein. Natürlich kann man nicht – wie viele es tun – fertige Barrierefreiheits-Expert:Innen erwarten, dafür ist die Qualifizierung in Deutschland zu lange vernachlässigt worden. Andererseits wird meines Erachtens das „Onboarding“ überschätzt. Man kann in wenigen Tagen eine technisch halbwegs fitte Person dazu befähigen, Webseiten zu testen oder PDFs barrierefrei zu gestalten. Weitere vertiefende Fähigkeiten können dann später dazu kommen, aber dies sind die Sachen, die aktuell und bis auf absehbare Zeit benötigt werden.
Was sagt uns das? Zum Einen, dass Barrierefreiheit als Nebenbei-Tätigkeit verstanden wird. Irgendwelche Personen, die angelernt werden oder auch nicht sollen es neben ihrer eigentlichen Arbeit umsetzen. Zum Anderen wird aber auch deutlich, dass auch die großen Agenturen und andere Dienstleister:Innen das Geschäftsfeld noch nicht erschlossen haben.

Über Sinn und Unsinn von Barrierefreiheits-Tests

Leider hat es sich eingebürgert, komplexe Testverfahren als das Nonplus-Ultra in der Barrierefreiheit anzusehen. Wir nennen hier die wichtigsten Gründe, warum Sie von abschließenden Barrierefreiheits-Tests absehen sollten.

Der BITV-Test ist ein Privat-Projekt

In Deutschland fällt einem natürlich zuerst der BITV-Test ein. Wir nennen ihn hier DIAS-Test, da es sich um ein privates Testverfahren der DIAS GmbH handelt, von dem sie einfach mal behaupten, es würde die BITV testen. Die BITV, die selbst keine Anforderungen an die Barrierefreiheit enthält.
Bitte lassen Sie die Finger von solchen Testverfahren. Wer solche Testverfahren entwickelt und diese so intransparent wie die DIAS GmbH gestaltet, verschafft sich die Definitionsmacht darüber, was Barrierefreiheit ist. Am Ende heißt es dann nicht mehr: Barrierefrei ist Konformität nach WCAG 2.x, sondern barrierefrei ist konform nach DIAS. Leider ist die DIAS aber von niemandem legitimiert, diese Definitionsmacht einzunehmen. Warum sie ihr Testverfahren BITV-Test bzw. WCAG-Test nennen, bleibt dann ihr Geheimnis, als ob es keine anderen WCAG-Tests gäbe. Die DIAS hat damit eine Monopol-Stellung eingenommen, mit der sie meines Erachtens unverantwortlich umgeht.
Dem Vernehmen nach darf der DIAS-Test ohnehin nur noch nichtkommerziell bzw. durch den DIAS-Prüfverbund offiziell durchgeführt werden. Ein weiterer Grund, den Test nicht mehr zu verwenden. Zumindest wird an keiner Stelle genau beschrieben, wer unter welchen Umständen außerhalb des DIAS-Prüfverbundes diese Tests durchführen darf. Ich freue mich über sachdienliche Hinweise, falls Sie da mehr wissen als ich.

Komplexität mit Qualität verwechselt

Wir glauben häufig, wenn ein Verfahren nur komplex und vielschrittig ist, könnten wir eine hohe Qualität sicherstellen. Ich war an einigen Prüfverfahren und deren Entwicklung beteiligt und kann sagen, dass dem nicht so ist. Ein Prüfverfahren neigt dazu, eine komplexe Anwendung in tausend Einzelteile zu zerlegen.
Wie sinnvoll ist so eine Zerlegung bei sagen wir einer komplexen Webanwendung? Tatsächlich ist hier eine heuristische Analyse, wie sie etwa in der Usability eingesetzt wird viel sinnvoller.
Alternativ können auch Schnelltests eingesetzt werden. Sie bestehen aus 10-15 wichtigen Prüfschritten, die im Wesentlichen auf jede Webseite anwendbar sind.
Beide Verfahren, der Schnelltest und die heuristische Analyse haben den Vorteil, dass sie schnell und kostengünstig die meisten Fehler aufdecken können. Ein simples Beispiel: Hat jemand seine Formulare nicht gelabelt, ist die Webseite nach keiner Definition barrierefrei, ein weiterer Test würde sich also erübrigen. Es ist ziemlich unwahrscheinich, dass jemand die Labels vergisst, aber ansonsten sauber gearbeitet hat.

Das Pferd von hinten aufgezäumt

Prinzipiell ist ein Barrierefreiheits-Test keine schlechte Sache. Das Problem ist, dass man die Sache hier falsch angeht. Ein Test bringt vor allem etwas, wenn man Barrierefreiheit von vorneherein berücksichtigt hat. Sie glauben gar nicht, wie viele Apps bei mir eintreffen, wo ein Test überhaupt keinen Sinn macht, weil die Entwickler:Innen die Barrierefreiheit nicht berücksichtigt haben. Ich schicke das dann ungeprüft zurück, weil das Testen und Feststellen der Fehler so viel Arbeit fressen würde, dass ein Nachtest nach den Verbesserungen gar nicht mehr im Budget wäre.
Der erste Schritt ist also, kompetente Designer:Innen und Entwickler:Innen zu beschäftigen, in deren Aufgabe fällt auch das Testen.
In der Theorie klingt es gut: Erst die Entwicklung, dann das Testen, dann Verbesserungen, dann noch mal das Testen. In Wirklichkeit ist das ein hoher Grad an Energie- und Ressourcen-Verschwendung. Die Erfolgskriterien der WCAG 2.x sind ohnehin als testbare Kriterien formuliert. Wie oben gesagt, müssen die beteiligten Personen grundlegend barrierefrei arbeiten, dazu gehört auch das Testen.

Testen am lebenden Subjekt

Wie oben angedeutet ist natürlich wichtig, dass Software bzw. Webseiten grundlegend barrierefrei entwickelt werden.
Der zweite Schritt ist dann, dass mit dem lebenden Subjekt getestet wird. Meines Erachtens ist kein nicht-behinderter Mensch in der Lage, eine komplexe assistive Technologie wie einen Screenreader, eine Bildschirm-Lupe oder eine Sprachsteuerung so zu nutzen wie es ein Betroffener tun würde. Doch gerade bei komplexen Webprojekten – wir reden nicht von der 08/15-statischen Webseite, sind solche Tests enorm wichtig. Sie werden aber nicht gemacht, weil der DIAS-Test schon alle Mittel verschlungen hat.
Allerdings ist im Rahmen der EU-Richtlinie 2102 ohnehin ein Feedback-Mechanismus vorgesehen. Daher mein Vorschlag: Stecken Sie die Ressourcen für den DIAS-Test in den Test der Anwendung durch betroffene Personen. Und setzen Sie auf agile Weiterentwicklung der Anwendung, statt alle zwei Jahre zu überlegen, was Sie besser machen könnten.

Fazit

Wir sind, was die Barrierefreiheit angeht aktuell an einem toten Punkt. Während Millionen Euro in die aufwendige Testung gesteckt werden, gibt es recht wenige in Barrierefreiheit kompetente Entwickler:Innen und Designer:Innen. Gerade im öffentlichen Dienst und den für sie tätigen Agenturen müsste viel mehr Geld in die Kompetenz der zuständigen Personen gesteckt werden. Oder wer soll die Mängel reparieren, die durch die Tester:Innen entdeckt werden? Auch behinderte Menschen sollten zu Tester:Innen qualifiziert werden, das wäre eine sinnvollere Maßnahme.
Der Dreiklang aus Kompetenz auf der Seite der zuständigen Personen und kompetenter Tester:Innen sowie dem Feedback-Mechanismus kann wesentlich mehr zur Barrierefreiheit beitragen als immer stärker aufgeblasene Testverfahren. Heute sind es 90, morgen 120 und irgendwann 150 Prüfschritte. Dann sitzt man mehrere Personentage an dem Test einer Handvoll Webseiten, hat aber im Endeffekt nichts für die Barrierefreiheit erreicht.

Weitere Infos

Barrierefrei ist mehr als Sprachausgabe und Alternativtext

inklusion-gruppe-menschenIn den letzten Jahren haben erfreulicherweise die Artikel über digitale Barrierefreiheit zugenommen. Fast jeden Tag erhalte ich Hinweise auf Beiträge bei Spiegel Online und Co. Allerdings verbreite ich diese Artikel selten weiter, weil sie meines Erachtens zu stark auf Blindheit fokussieren. Wie oft lese ich auf Twitter sinngemäß: „Es funktioniert mit Sprachausgabe, also ist es barrierefrei“. Das offenbart eine falsche Ansicht von Barrierefreiheit. Die umgekehrte Aussage „Es funktioniert nicht mit Sprachausgabe, also ist es nicht barrierefrei“ wäre hingegen vollkommen korrekt.
Das erinnert mich an einen ehemaligen Schulkameraden, der jetzt Fachinformatiker ist. Ich erzähle ihm, die Anwendung X wäre nicht barrierefrei, genauer gesagt nicht mit Screenreader nutzbar. Er sagt dann regelmäßig: Doch, die ist barrierefrei, Du musst einfach nur… stellen Sie sich eine gewundene Anleitung vor, die etwas mit Fensterklassen und Screenreader-Cursorn zu tun hat, von denen ich noch nie gehört habe, außerdem sollen vier Tasten gleichzeitig gedrückt und vorher noch das Soundso-Skript heruntergeladen werden. Er hat eine etwas verschrobene Vorstellung von einfach, aber auch wie viele super-fitte Blinde das Konzept von Barrierefreiheit nicht ganz verstanden. Viele von ihnen haben kein Gefühl für die technischen Fähigkeiten anderer Blinder oder eine Idee davon, dass man auch mehrere Einschränkungen haben kann, dass also etwas, was für sie gut funktioniert für andere Blinde oder andere Behinderte nicht gut funktionieren muss.

Drängeln sich die Blinden vor

Meistens beginnen die Artikel vielversprechend. Liest man aber zwei Absätze weiter, werden nur noch Sprachausgaben und Alternativtexte erwähnt. Ein schönes Beispiel war ein Artikel – ich verlinke ihn hier absichtlich nicht – wo zunächst ein blinder Nutzer und anschließend ein blinder Entwickler vorgestellt wurden. Der Eine vertrat die Nutzer:Innen-Perspektive, der Andere die Entwickler:Innen-Perspektive.
Das ist nett, scheint mir aber nicht ausgewogen zu sein. Es gibt sicher Autist:Innen oder Gehörlose, welche die eine oder andere Perspektive hätten beisteuern können. Es leuchtet nicht ein, warum Blinde, deren Belange bei digitaler Barrierefreiheit eigentlich immer erwähnt werden, so deutlich hervorgehoben werden. Wenn ich etwa interviewt werde, muss ich natürlich etwas zum Thema Blindheit sagen, aber ich erwähne auch immer weitere Gruppen, weil ich finde, dass sie im Diskurs um digitale Barrierefreiheit vergessen werden, im übrigen auch von Leuten, die sich in der Materie auskennen. Ich lese zum beispiel etwas über Alternativtexte und Großschreibung bei Hashtags, aber das die Tweets in einer Sprache geschrieben sind, die nicht mal ich als Akademiker verstehe kommt nicht vor. Oder die Unart, irgendwelche Standpunkte oder anderen Blödsinn in den Twitternamen zu packen, so dass man erst irgendeinen Blödsinn vorgelesen bekommt, bevor man den Tweet zu lesen bekommt. Es ist eben typisch für Sehende, die nicht kapiert haben, dass Blinde solche Dinge nicht einfach überspringen können.

Blindheit ist plastisch

Der Grund dafür ist klar, die Belange von Blinden lassen sich sehr einfach beschreiben. Der Alternativtext wird so gerne erwähnt, weil er als Beispiel einfach und einleuchtend ist.
Und es stimmt auch teilweise: Ist eine Webseite per Tastatur bedienbar, sind Formular-Beschriftungen richtig gesetzt und ist die Semantik korrekt, können auch andere wie Tastatur- oder Sprachausgaben-Nutzer:Innen profitieren.
Allerdings sind die Schnittmengen damit fast schon erschöpft. Blinden ist der Kontrast einer Webseite völlig egal, aber der viel größeren Gruppe der Sehbehinderten durchaus nicht.
Noch schwieriger wird es beim Thema kognitive Behinderung, Gehörlosigkeit oder Lernbehinderung. Die erstere Gruppe wurde in den Richtlinien bislang stark vernachlässigt. Bei den letzten beiden Gruppen wissen wir, dass Leichte und Gebärdensprache die Lösung wären, setzen es aber unzureichend um. Aber nur, weil deren Belange schwerer zu beschreiben sind heißt das nicht, dass man sie im Diskurs unterschlagen darf.

Fazit: Blindheit ist wichtig, aber nicht alles

Seitdem ich mich mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftige wundere ich mich, wie viel Gewicht auf das Thema Blindheit gelegt wird und wie wenig die anderen Personengruppen Erwähnung finden. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass Blinde sich selbst in den Vordergrund stellen, man kann das als Gruppen-Egoismus begreifen. Das ist allerdings recht engstirnig. Wir finden es auch nicht schön, dass räumliche Barrierefreiheit vor allem aus der Perspektive der Gehbehinderung gedacht wird. Meines Wissens gibt es keine andere Gruppe, die behaupten würde, eine Webseite sei barrierefrei, weil sie für ihre Form von Behinderung funktioniert. Wir Blinde tun das andauernd.
Natürlich ist es vollkommen legitim, für die eigenen Interessen bzw. Gruppen-Interessen zu kämpfen. Das sollte man dann aber nicht mit einem Kampf für mehr Barrierefreiheit verwechseln.
Ich darf meine blinden Leser:Innen um ein wenig mehr Generosität und Weitblick gegenüber anderen Betroffenen-Gruppen bitten. Wenn wir bei diesem Thema stärker nach links und rechts schauen und andere Gruppen einbeziehen, werden wir – da bin ich mir sicher – alle profitieren.

Kritik am BITV-Test

Der BITV-Test hat sich zum Standardinstrument für die Messung der Standardkonformität aka Barrierefreiheit entwickelt. Zugleich wirkt er aber aus der Zeit gefallen. Dieser Beitrag ist eine formale Kritik am BITV-Test, zur inhaltlichen Kritik am BITV-Test. Wir sprechen jetzt nur noch vom „DIAS-Test“, da der Name BITV- oder WCAG-Test eine Neutralität suggeriert, die nicht da ist.
Da das große Testen im Zuge der aktuellen EU-Richtlinie 2102 bald losgeht und der BITV-Test aktuell das einzige auf Deutsch verfügbare Instrument ist, ist jetzt ein guter Zeitpunkt, das Verfahren anzupassen. Zudem gibt es mit der Einführung der WCAG 3.0 und der Überarbeitung der EN 301 549 auch eine große Chance, das Verfahren umfassend zu überarbeiten.
Update: Der DIAS-Prüfverbund hat erkennen lassen, dass man an einem Update, mehr Offenheit, Beteiligung behinderter Menschen und Transparenz nicht interessiert ist. Wir raten daher vom Einsatz des DIAS-Tests nach aktuellem Stand ab.
Interessant ist auch, dass die DIAS GmbH bzw. die Seite zum Prüfverfahren den eigenen Test nicht bestehen würde. Aber sie halten sich für kompetent, andere Einrichtungen zur Barrierefreiheit zu beraten.

Offene Diskussion

Meines Wissens wurde der BITV-Test ursprünglich im Auftrag eines Bundesministeriums entwickelt.
Heute wird er von einer Handvoll Personen weiterentwickelt. Man kann viel darüber spekulieren, wer an der Entwicklung beteiligt ist: Sicher die DIAS GmbH und einige Personen, die auch offizielle Tester sind. Mir ist nicht bekannt, ob behinderte Menschen oder deren Selbstvertretungen eingebunden sind.
Hier geht das Problem aber schon los: Das Verfahren und seine Entwicklung sind nicht transparent.
Wie es anders geht, zeigt das Verfahren der Web Accessibility Initiative. Hier wissen wir, wer an der Entwicklung der Richtlinien und weiterer Dokumente beteiligt ist. Die Richtlinien stehen offen zur Diskussion. Der BITV-Test hingegen wirkt wie ein Privat-Projekt. Auch hier können Fehler gemacht werden. Beispiel dafür ist das Language Attribut.
Das heißt auch, dass dem BITV-Test jegliche Legitimität fehlt. Es wird von keiner öffentlichen Einrichtung beauftragt, keine öffentliche Einrichtung ist beteiligt und eine öffentliche Diskussion ist nicht möglich. Es handelt sich auch um keine Industrie-Norm, dann wäre die Legitimität auf solidere Füße gestellt. Dass man den WAI-Empfehlungen zur Entwicklung von Testverfahren gefolgt ist, ist zwar schön, trägt aber auch nicht zur Legitimität des Verfahrens bei.
Es sei an dieser Stelle auch klar gesagt: Die Gesetze schreiben zwar vor, dass Webseiten und Inhalte barrierefrei bereit gestellt werden sollen. Maßstab hierfür sind die EN 301 549 und damit die WCAG. Der BITV-Test hingegen ist in keinem Gesetz als Maßstab verankert. Barrierefreiheit und ein erfüllter BITV-Test sind also nicht synonym. Aktuell ist es einfach nur ein Projekt der DIAS GmbH und der Leute, denen die DIAS Zugang erlaubt. Warum gibt es kein GitHub-Repository dazu? Alternativ könnte die DIAS auch kommunizieren, dass es ihr Privatprojekt ist, dann würde keiner auf die Idee kommen, das Verfahren als Gütesiegel zu betrachten.
Auch halte ich die Tandem-Prüfung in der jetzigen Form nicht für sinnvoll. Der abschließende BITV-Test soll durch zwei Prüfer:Innen durchgeführt werden. Ist es aber wahrscheinlich, dass zwei erfahrene Prüfer:Innen zu stark unterschiedlichen Bewertungen kommen? Für mich ist völlig unverständlich, warum nicht eine der Prüfer:Innen eine für digitale Barrierefreiheit relevante Behinderung haben sollte. Es wirkt so, als ob man behinderte Menschen von einem lukrativen Betätigungsfeld ausschließen möchte.

Mangelnde Einbindung behinderter Menschen

Nichts über uns ohne uns ist einer der wichtigsten Slogans der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Leider sehe ich nicht, dass behinderte Menschen von BIK aktiv eingebunden werden. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, sie meinen, es besser als die Betroffenen zu wissen, siehe die Diskussion um das Language Attribut.
Dass in irgendeiner der beteiligten Organisationen der eine oder andere behinderte Mensch arbeitet, ändert nichts an der Kritik. Es heißt ja nicht automatisch, dass diese Person auch aktiv eingebunden wird.

Undurchsichtige Verflechtung

Die Website zum BITV-Test wird von der DIAS betrieben. Das gibt dem Verfahren ein Geschmäckle, um es vorsichtig auszudrücken. Einerseits soll es ein offenes Verfahren sein, andererseits wird schon die Website nicht unabhängig betrieben.
Endgültig schwierig wird es dadurch, dass der BITV-Test direkt auf der gleichen Seite beauftragt werden kann. Das sagt mir indirekt: Schaffst es eh nicht, lass uns das machen. Und es birgt zusätzlich das Stigma der mangelnden Unabhängigkeit.

Kritik der Präsentation

Es mag auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinen, aber auch die Website zum BITV-Test ist nicht attraktiv. Sieht irgendwie nach dem Geschmack der 2010er Jahre aus. Für uns stehen Inhalte im Vordergrund, aber wer möchte es Designer:Innen und Entwickler:Innen verdenken, dass sie schon das Layout unattraktiv finden? Wie soll man diese Personen davon überzeugen, dieses Instrument zu nutzen oder Barrierefreiheit attraktiv zu finden?
Auch sind viele Prüfschritte offenbar nicht Korrektur gelesen worden. Da sind einige Klopper drin, die eine anständige Rechtschreibprüfung gefunden hätte. Übrigens ein weiterer Grund, warum man eine offene Diskussion bräuchte.

Zusammenfassung

Lassen Sie mich die Hauptpunkte der Kritik am BITV-Test zusammenfassen:

  • Es ist nicht klar, welche Personen an dessen Entwicklung beteiligt sind. Es ist außerdem nicht klar, ob und inwieweit behinderte Menschen oder ihre Vertretungen eingebunden sind.
  • Das Verfahren hat unabhängig davon nicht einmal indirekte Legitimität, da es nicht offen diskutiert wird.
  • Das Verfahren enthält Fehler: Siehe die Diskussion um das Language Attribut.
  • Kritik behinderter Expert:Innen wird vom Prüfverbund nicht ernst genommen.

Mein Eindruck ist nebenbei gesagt auch, dass die Zahl der Tester:Innen künstlich knapp gehalten wird. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass sich nur eine Handvoll Agenturen und Freelancer:Innen dort bewerben.
Nun kann man argumentieren, dass es eben kein offenes Verfahren sein will, sondern ein geschütztes Verfahren im Eigentum von DIAS. Das kann man akzeptieren, obwohl es ursprünglich aus einer öffentlichen Förderung entstanden ist. Allerdings sollte man das dann auch so kommunizieren und nicht so tun, als ob es ein öffentliches und legitimiertes Verfahren wäre.
Meines Erachtens wird die DIAS GmbH ihrer Verantwortung nicht gerecht. Einerseits hat sie den BITV-Test als neutrales Instrument etablieren wollen. Andererseits behandelt sie den Test so, als ob er ihr gehören würde.
Zudem ist die DIAS GmbH und der anhängende Prüfverbund beratungs-resistent und nicht bereit, auf Kritik Betroffener einzugehen. Im Kern halte ich die DIAS GmbH und den BITV-Prüfverbund für behindertenfeindlich.

Vier Gründe, warum Du behinderte Menschen bei der Barrierefreiheit einbinden solltest

Stiliserte FigurenWusstest Du, dass man Barrierefreiheit umsetzen kann, ohne die Betroffenen zu beteiligen? Zumindest in Deutschland scheint man das zu glauben.
Beispiele gibt es zuhauf: So gab es im Jahr 2020 eine millionenschwere Ausschreibung des Bundes zum Testen von Barrierefreiheit, von Beteiligung behinderter Menschen bei diesen Tests war nicht die Rede. Eine Ausschreibung der Bundestagsverwaltung zum Thema Sensibilisierung zur Barrierefreiheit mit rund 20 Vorträgen erwähnte auch mit keinem Wort, dass behinderte Menschen dabei sein sollten. Agenturen, die Barrierefreiheit umsetzen, ob groß oder klein, erwähnen mit ein paar Ausnahmen nicht, dass behinderte Menschen bei der Entwicklung oder beim Testing eingebunden werden. Es gibt zahllose Behindertenbeauftragte im öffentlichen Dienst oder in Betrieben, die selbst keine Behinderung haben. Last not least die IAAP DACH, auch hier bleiben behinderte Menschen bisher unsichtbar, ebenso wie beim BITV-Test.
Hier also vier Gründe, warum Du behinderte Menschen aktiv in Deine Barrierefreiheitsprojekte einbinden solltest.

  • Theoretisches Wissen reicht nicht aus. Ich muss selbst gestandenen Experten klar machen, dass eine bestimmte Sache mit Screenreadern nicht funktioniert. Es ist eben ein Unterschied, theoretisch zu wissen, auf welche Probleme behinderte Menschen stoßen oder die Probleme aus der Praxis zu kennen.
  • Ein Imperativ der Inklusion ist, dass nichts über uns ohne uns geschehen soll. Viele Barrierefreiheits-Experten glauben aber, es besser zu wissen als die Betroffenen. Der Verweis auf die Guidelines ist richtig, aber greift zu kurz. Es sind eben Guidelines und keine Regeln oder feste Normen.
  • Es werden Stellen für behinderte Menschen geschaffen. Es ist unglaublich, wie viele arbeitslose behinderte Menschen es gibt. Es könnten problemlos mehrere hundert Stellen für Tester:Innen geschaffen werden, im übrigen hochqualifizierte und gut bezahlte Stellen, an denen fehlt es behinderten Menschen. Natürlich muss man diese Personen qualifizieren, Behinderung ist ja keine Qualifikation an sich. Aber nicht-behinderte Menschen muss man auch qualifizieren.
  • It’s the right thing to do. So wie andere benachteiligte Gruppen auch lange Zeit für Gleichberechtigung kämpften, kämpfen behinderte Menschen nach wie vor für ihren angemessenen Platz in der Gesellschaft. Bei der Gleichberechtigung von Frauen im Beruf zum Beispiel geht es eben nicht darum, dass Frauen generell bessere Mitarbeiterinnen sind, das mag häufig der Fall sein. Es geht darum, dass Frauen praktisch immer strukturell benachteiligt waren bzw. sind und es das Richtige ist, diese Benachteiligung abzubauen. Ich hoffe mal, niemand käme heute noch auf die Idee, eine Altherrenrunde einzuberufen, um zu klären, wie man Gleichberechtigung für Frauen umsetzen kann. Bei behinderten Menschen scheint mir dieses Vorgehen aber weit verbreitet, also Nicht-Behinderte, die besser als wir wissen, was gut für uns ist.

Ich sehe bei einigen nicht-behinderten Menschen einen ausgeprägten Paternalismus, frei nach dem Motto, wir machen die Welt für die armen Behinderten mal barrierefrei. Wahrscheinlich finden jeden Tag solche Runden statt, in denen kein Betroffener vertreten ist. Das ist aber das Verhalten der 80er. Wir haben eine Behindertenrechtskonvention, in die einige Leute mal reinschauen sollten.
Ich bezweifle nicht, dass da viele Involvierte guten Willens sind. Mich stört allerdings die Haltung, die dahinter steht und auch die Ergebnisse, die nicht so gut sind, wie sie sein könnten, wären behinderte Menschen beteiligt gewesen.
Why you should involve Disabled in digital Accessibility Projects