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Barrierefreiheit – Konformität wird überschätzt

Fast jeden Monat gibt es eine größere Analyse von Websites auf Barrierefreiheit. WebAIM ist sicherlich die Bekannteste, aber nicht die Einzige. Meine Kritik an der WebAIM-Studie habe ich bereits anderswo zusammengefasst. Kurzgefasst geht es um die mangelhafte Aussagefähigkeit dieser automatischen Prüftools. Sie sind eine Erleichterung für Personen, die eine Website evaluieren oder das Qualitätsmanagement für zahlreiche Seiten verantworten. Als Analyse-Tool für große Datenmengen sind sie aufgrund ihrer strukturellen Schwächen und mangelnder Analyse-Tiefe unzureichend. Es ist wie beim Body Mass Index, hilfreich für einen Durchschnittswert, belanglos für den Einzelfall.
Simples Beispiel: Ich mache meine große MedienSeite barrierefrei, binde aber Inhalte über Dritte ein, die ich nicht beeinflussen kann. Werbung wird oft über Dritt-Services eingebunden und diese Networks werden mit Sicherheit nie erlauben, den Mindest-Kontrast oder die Blink-Frequenz zu steuern geschweige denn, dass man da Alternativtexte einsetzt. Heißt, der Kern der Website ist an sich nutzbar, aber wegen der nicht-steuerbaren Inhalte fällt man durch.
Richtig ist, dass diese Websites nicht konform im Sinne der WCAG sind, denn Konformität heißt, dass man einen gewissen Grad an Barrierefreiheit erfüllt. Allerdings wird hier mit den Begriffen unsauber gearbeitet. Als Beispiel nehme ich mal diese Studie“, man kann aber im Prinzip jede Studie nehmen, die auf rein quantitativen Methoden beruht.
Die Gleichungen:
Konformität mit einer Stufe der WCAG = barrierefrei – darüber kann man streiten. Es ist Konsens, dass Barrierefreiheit mehr ist als Konformität mit der WCAG, allerdings wird darüber gestritten, was dieses „mehr“ tatsächlich ist.
Aus dieser Gleichung folgt: Nicht-Konformität = Nicht-Barrierefreiheit. Das können wir einmal so hinnehmen.
Daraus wird gefolgert: Nicht-konform = Nicht-Benutzbarkeit für behinderte Menschen. Das ist leider falsch, wird aber häufig suggeriert.
Es mag sein, dass man gewisse Teile der Webseite nicht benutzen kann, wenn man eine bestimmte Behinderung hat. Ein simples Beispiel dafür ist der Mindest-Kontrast. Ich und andere Sehrestler kennen das Phänomen, dass der Kontrast einer dunklen Farbe auf einem hellen Grund schlechter wahrgenommen wird als der Kontrast bei umgedrehten Farben, also der Ton der Hintergrundfarbe als Schriftfarbe und die Schriftfarbe als Hintergrundfarbe. Der Kontrast wäre exakt gleich, aber das eine kann man noch lesen, das andere nimmt man nicht wahr. Oder wenn ich die in Windows integrierte Bedienungshilfen einsetze, kann ich ebenfalls Verbesserungen herbeiführen. Es wird aus gutem Grund gesagt, dass man als Web-Anbieter solche Dinge nicht einkalkulieren darf. Worauf ich hinauswill ist, dass schlechte Kontraste ein Problem sind, aber kein so schwerwiegendes. Ebensowenig interessiert mich, ob Insta oder Facebook überall Bildbeschreibungen bereit stellt. Das interessiert mich nur bei den Seiten bzw. Leuten, denen ich folge. Bei solchen Websites – insofern man sie überhaupt so nennen möchte – hängt es extrem vom geprüften Sample ab. Manche Betreiber werden extrem auf Bild-Beschreibungen und andere Faktoren achten und andere nicht. Wenn ich Letztere als Sample für meine automatische Analyse nehme, stellt sich die Frage, ob diese Daten repräsentativ für das gesamt Angebot sind. Hinzu kommt die Herausforderung von user-generiertem Content bei solch großen Portalen. Automatische Bildbeschreibungen werden nicht akzeptiert, aber die meisten Leute sind nicht bereit oder verfügen nicht über das Bewusstsein, Bild-Beschreibungen hinzuzufügen. Ist es der richtige Weg, das den Betreibern anzulasten? Wie viele Leute würden wohl Quatsch reinschreiben, wenn Bildbeschreibungen obligatorisch wären? Automatische Prüftools würden das aber honorieren, Hauptsache, es ist eine Beschreibung vorhanden.
Meines Erachtens, das habe ich oben zur Webbaim-Studie schon geschrieben, sind diese Analysen im Grunde gar nicht aussagekräftig. Sie werden weder den Anbietern noch den Nutzer:Innen gerecht. Ein Kuriosom am Rande, das Digital Journal, das auf besagte Studie verweist hat das Copyright in den Alternativtext geschrieben. So tappt man in die eigene Falle.
Die Gleichung nicht-konform = nicht-barrierefrei = nicht benutzbar für behinderte Menschen stimmt so einfach nicht. Dass wird mit diesen großen Zahlen aber impliziert, deshalb rezipiere ich diese Studien nur kritisch oder gar nicht.
Klar ist: Diese großen Samples lassen sich nicht mit vernünftigen Mitteln qualitativ analysieren, zumindest in absehbarer Zeit nicht. Meines Erachtens sind aber diese automatischen Prüftools, was die jetzige Qualität angeht, absolut unzureichend.
Was sie liefern können sind Vergleichswerte, ebenso wie der Body Mass Index hervorragend geeignet ist, Übergewicht im Schnitt zu ermitteln, aber wenig über das Übergewicht einzelner Personen aussagt. Wir können also ausgezeichnet Vergleiche sagen wir zwischen bestimmten Arten von Websites oder zwischen verschiedenen Ländern mit diesen Tools erstellen. Für qualitative Aussagen sind die Tools ungeeignet.
Die große Schwäche des Konzepts Konformität liegt darin, dass die Fehler nicht gewichtet werden. Ein fehlelnder Alternativtext, eine doppelt vergebene ID, fehlende Labels – aus der Sicht der Tools ist das alles das Gleiche.

Ausschreibungen zur Barrierefreiheit – realitätsfremde Erwartungen des öffentlichen Dienstes

Ihr merkt es, ich bin in Schimpflaune auf den öffentlichen Dienst. Nachdem der Staat die Barrierefreiheit entdeckt hat – die erste BITV ist ja erst 20 Jahre alt – kommen jetzt nach und nach die ganz großen Brötchen: Millionenschwere Ausschreibungen für Tests zur Barrierefreiheit von Webseiten, Erstellung Leichter oder Gebärdensprache und noch einiges mehr.
Ich hatte in einem anderen Beitrag geschildert, wie die Barrierefreiheits-Consulting-Struktur in der DACH-Region aufgestellt ist: Es sind vor allem Kleinnst-Agenturen, die solche Volumen wahrscheinlich nicht einmal dann stemmen könnten, wenn sie nicht ohnehin gut ausgelastet wären. Die Einzelunternehmer bleiben ohnehin außen vor.
Allerdings sind diese Unternehmen durch die Klauseln ohnehin ausgeschlossen: Da wird häufig ein Mindest-Umsatz oder Mitarbeitenden-Zahl eingefordert, die man nur bei großen Unternehmen findet.
Jüngstes Beispiel ist eine Ausschreibung der Knappschaft Bahnsee, dem Träger der Überwachungsstelle des Bundes. Da gab es ein Volumen von 800 Schnelltests über vier Jahre, kurze Zeit vorher schrieb der Bund ein Volumen von 25000 Seiten Leichte Sprache über vier Jahre aus. Es gibt in ganz Deutschland kein Leichte-Sprache-Büro, welches ein solches Volumen bewältigen kann. Den Vogel abgeschossen hat die IT NRW: Dort wollte man Schulungen, Tests und Consulting in hoher Zahl einkaufen. Gefordert wurden meiner Erinnerung nach mindestens 10 zertifizierte Software-Tester, Fachpublikationen, Präsenz auf Fachkonferenzen (in Deutschland?) und noch einiges mehr. Für mich las sich das so, als ob man im Prinzip alle kleinen und mittelständischen Unternehmen von Vorneherein ausschließen wollte.
Das traurige Spiel ist bekannt: Große Agenturen werfen sich mit Dumpingpreisen drauf und kaufen die Leistung dann billig ein: Die Tests werden in Ländern mit geringeren Löhnen durchgeführt – die Auslandstochter ist schnell gegründet, dann bleibt alles in der Firma. Behinderte Menschen müssen nicht eingebunden sein – die haben uns ja den Mist eingebrockt. Alternativ werden ein paar Studierende kurz eingelernt. Ich habe einige Barrierefreiheits-Berichte großer Agenturen gesehen: Sie sind künstlich aufgebläht, um Kompetenz vorzutäuschen, die Testqualität ist mangelhaft.
Das Tragische an der Geschichte ist, dass die ausgeschriebenen Volumen oft nicht annähernd abgefragt werden. Irgendwo in der Abstimmung zwischen den Bundes-Einrichtungen und dem Beschaffungsamt scheinen die Informationen verloren zu gehen. Die Idee ist einfach: Man kauft große Volumen gemeinsam ein, um den Gesamtpreis zu senken. Aber die Bundesbehörden nutzen diese Rahmenverträge anscheinend nicht, sondern beschaffen sich die Leistungen einfach selbst. Ob das billiger oder teurer ist, ist eine andere Frage.
Durch diese Politik schadet sich der Bund langfristig selbst. Natürlich kann ich günstigere Preise anbieten, wenn jemand große Volumen abnimmt. Wenn jemand aber große Volumen anfragt und Rabatte bekommt, diese Volumen aber nicht annähernd abgerufen werden, ist man kein guter Geschäftspartner. Zudem verhindert man auf diese Weise eine vernünftige Planbarkeit. Für ein großes Unternehmen spielt das keine so große Rolle. Für einen Freelancer ist der Bund ein unberechenbarer Kunde.
Wie kann man es besser machen?
1. Die Ausschreibungen müssen barrierefrei sein. Das ist leider oft nicht gegeben, ist aber gesetzlich gefordert.
2. Die Ausschreibungen müssen kleinere Volumen aufweisen. Ich denke, es ist dem Bund zumutbar, die Ausschreibungen bei 200.000 € pro Jahr zu deckeln, das gibt auch kleineren Agenturen die Chance, sich zu bewerben.
3. Es müssen zwingend Menschen mit Behinderung in den Barrierefreiheits-Projekten beteiligt sein. Vergessen wir mal nicht, dass es sich hier um öffentliches Geld handelt. Im Augenblick bezahlt man Nicht-Behinderte dafür, dass sie die Fehler von NIcht-Behinderten ausbügeln und das ohne die Beteiligung behinderter Menschen.

Jobs zur Barrierefreiheit – die realitätsfremden Erwartungen im öffentlichen Dienst

Ich beobachte ja seit einigen Jahren den Jobmarkt für Barrierefreiheits-Expert:Innen. Während im angloamerikanischen Raum ein gewisser Anstieg zu sehen ist, sieht es in Deutschland anders aus. Nach meinem subjektiven Gefühl, es fehlt die Daten-Basis, sind es vielleicht ein halbes Dutzend Stellen, die aktuell real verfügbar sind. Man muss dabei die Pseudo-Stellen wie etwa die von Materna abziehen, es ist kaum wahrscheinlich, dass ein großes Unternehmen so lange an so vielen Standorten nach Barrierefreiheits-Consultants sucht. Anlass für diesen Beitrag ist der Artikel The crisis is real: Where are the web accessibility professionals? bei WebAIM.
Nun gibt es diesen Mangel an Expert:Innen, vor allem, weil es bis heute weder in ausbildung noch im Studium vorkommt. Man muss sich das autodidaktisch aneignen oder gut Englisch können, weil es da reichlich Kurse zur Auswahl gibt.
Interessant ist aber, welch unrealistische Erwartungen gerade der öffentliche Dienst hat. Da wird tatsächlich ein Studium der Informatik oder vergleichbar eingefordert, als ob es nicht Informatiker:Innen gäbe, die nie mit HTML in Berührung gekommen sind. Und als ob das Testen auf Barrierefreiheit für diese Personen ein interessantes Betätigungsfeld wäre.
Aber nehmen wir an, wir haben so einen Wunderknaben: Warum sollte er sich im öffentlichen Dienst auf eine Stelle bewerben, die ähnlich wie eine Online-Redakteur:In besoldet ist? Nach meiner Beobachtung sind für solche Stellen TVÖD 12 bis 13 üblich. Das bekommen häufiger Menschen aus der Kommunikation, der einzige Bereich, den ich kenne. Das Gehalt ist für den öffentlichen Dienst durchaus nicht schlecht. Aber es ist weit weg von dem, was eine IT-Absolvent:In verdienen kann, die direkt in die IT geht oder gar in die Privat-Wirtschaft.
Faktisch hätten die meisten Leute, die heute in der Barrierefreiheit arbeiten keine Chancen auf diese Stellen, weil sie die formalen Voraussetzungen nicht erfüllen. Die meisten Consultants und Web-Entwickler:Innen, die ich kenne sind Quereinsteigende aus anderen Bereichen. Keiner hat eine bodenständige Informatik-Ausbildung gemacht. Andersherum ist die Web-Entwicklung für die meisten Informatiker:Innen nicht interessant: Wenn überhaupt, kann man in der regulären Software-Entwicklung deutlich mehr verdienen.
Fassen wir zusammen: Der ÖD hat nicht nur unrealistische Erwartungen, sondern zahlt auch zu schlecht. Meiner Erfahrung nach ist es auch mit der Inklusion oder der Nicht-Diskriminierung Behinderter im ÖD auch nicht so weit her. Ich kenne einige blinde mit IT-Ausbildung, die trotz Berufserfahrung nicht genommen wurden – wo ist wohl der Fachkräftemangel geblieben? Viele große Unternehmen und manch Mittelständler ist deutlich weiter, was Diversität und Inklusion angeht. Die Behörden sind vor allem ab der Führungsebene weiß, überweigend männlich, eher Müller und Schmitz statt Öztürk oder Wischnewski.
Mit der Barrierefreiheits-Kultur innerhalb der Behörden ist es Berichten Befreundeter auch nicht so weit her: So dauert es ewig, bis man die assistiven Technologien eingerichtet bekommt, gerne werden auch Systeme wie Citrix eingesetzt, welche die assistiven Technologien aushebeln. Die IT ist vor allem, was assistive Technologien angeht in der Steinzeit verblieben, übrigens auch bei den ansonsten gut ausgestattteten Bundesbehörden, in den Kommunen und Kreisen sieht es noch schlechter aus. Ausgerechnet der ÖD hat teils wesentlich schlechtere Arbeitsbedingungen für Behinderte als große Teile der Privat-Wirtschaft. Insgesamt würde ich keinem jungen Menschen, erst Recht keinem Behindertem, empfehlen, eine Karriere im ÖD zu starten. Die unglaublich langsamen, formalistischen und verkrusteten Prozesse findet man in vielen großen Organisationen, doch im ÖD sind sie noch hartnäckiger.
Es ist also kein Wunder, dass der ÖD keine Barrierefreiheits-Kompetenz aufbauen kann. Eventuell ist es sogar besser, dass er sie von Fremden einkauft.
Zu Beginn meiner Karriere hatte ich mich tatsächlich viel auf Stellen im ÖD beworben im irrigen Glauben, diese würden es mit der Anti-Diskriminierung ernst meinen. Heute bin ich froh, dass es damals nicht geklappt hat. Unabhängig von der Barrierefreiheit hat der ÖD, also die Verwaltung einfach die moderne Zeit verpasst. Im Privat-Unternehmen verdient man mehr, als Freelancer hat man mehr Freiheiten. Der ÖD ist für Barrierefreiheits-Profis schlicht nicht attraktiv.

Komponenten- statt Seiten-Tests – warum der BITV-Test nicht mehr ausreicht

Webseiten können heute aus tausenden von Unterseiten bestehen. Bislang ist der BITV-Test das bevorzugte Testverfahren in Deutschland. In Zukunft wird er in der jetzigen Form nicht mehr ausreichen.
Websites bestehen im Prinzip aus wenigen Modulen: Navigationen, Content, Seiten-Bereiche, die Suche und eventuell noch eingebette Inhalte. Dafür reicht der BITV-Test heute aus. Man nimmt sich die Navigation in verschiedenen Zuständen vor, die paar wichtigsten Templates, eventuell noch ein Formular – das wars. Mehr schafft man im Prinzip auch nicht. Auch wenn ein Großteil der 91 Prüfschritte ohnehin nicht anwendbar sind, so ist der Test doch sehr zeitaufwendig.
Die große Herausforderung besteht aber in komplexen Websites, die eventuell sogar aus unterschiedlichen Redaktionssystemen gespeist werden oder auf denen mehrere Module ähnliche Aufgaben erfüllen. Bei großen Körperschaften kann man sich etwa gut vorstellen, dass einzelne Abteilungen ihr persönliches Lieblings-Modul haben, um Formulare zu erstellen.
Und dann sind da natürlich noch komplexe Web-Anwendungen. Single Page Applikationen wie Google Docs erfordern meines Erachtens eine andere Herangehensweise als statische, auf Information ausgelegte Websites.
Für große Websites scheint ein Remmediationsservice wie Siteimprove am sinnvollsten zu sein. Niemand ist in der Lage oder hat die Ressourcen, für so viele Websites die Qualitätssicherung zu machen. Hier kann man mit einer Mischung aus automatischer Remediation und Nutzer:Innen-Feedback arbeiten.
Was den Test durch Menschen angeht, müssen wir hingegen priorisieren. Mein Vorschlag ist, sich zum Einen, die Anwendung in Komponenten zu zerleegen. Die einzelnen Komponenten werden dann auf Barrierefreiheit geprüft und die Verantwortlichen müssen sicherstellen, dass nur noch geprüfte Komponenten verwendet werden dürfen.
Zum Anderen sollte man aber auch einen exemplarischen Use Case von Anfang bis Ende durchtesten. Dabei sollten natürlich auch Falsch-Eingaben geprüft werden. Das heißt, wir testen nur den Teil, der vollständig zum Use Case gehört, nicht den „Rahmen“ der Website, den wir oben bereits geprüft haben.
Vorstellbar ist, dass die verantwortliche Einrichtung eine spezielle Evaluations-Anwendung erstellt, in welcher alle exemplarischen Module vorhanden sind. Besser ist es aber, wenn man Komponenten prüft, wie sie tatsächlich erstellt wurden. Das hat de Vorteil, dass man nicht auf Komponenten trifft, die extra für den Test optimiert wurden.

XING – Barrierefreiheit und User Experience können sie nicht

Xing und die BarrierefreiheitIrgendwann hat sich die Firma Xing in New Work SE umbenannt. Es bleibt zu hoffen, dass die Plattform kein Beispiel dafür ist, wie New Work aussehen soll. Die Plattform ist trotz mehrfacher Hinweise von unterschiedlichen Personen nicht auf die Idee gekommen, die Barrierefreiheit der Plattform zu verbessern. Auch die User Experience ist eine reine Katastrophe.
Als Quasi-Monopolist bei Karriere-Netzwerken in Deutschland sollte XING hier meiner Ansicht nach mehr tun. Ansonsten bleiben behinderten Menschen Möglichkeiten der Vernetzung verschlossen. LinkedIn spielt in Deutschland noch nicht die zentrale Rolle und hat seine Hausaufgaben im Übrigen auch besser gemacht. Ja, es handelt sich um ein Privat-Unternehmen. Aber das ist heute kein Argument mehr, die Barrierefreiheit vollständig zu ignorieren.
Insgesamt ist das Portal natürlich sehr umfangreich. Ich gehe deshalb nur auf die Bereiche ein, die ich persönlich kenne. Auch beziehen sich alle Aussagen in erster Linie auf blinde Nutzer.

Nachrichten

Das Erstellen und beantworten von Nachrichten ist mit XING für Blinde leider nicht möglich. Die Eingabefelder sowie die diversen Optionen sind nicht sinnvoll oder gar nicht benannt.

Die roten Felder korrigieren

Wer zum Beispiel ein Event im Event-Markt anlegt, erhält gelegentlich die Fehlermeldung, er solle die roten Felder korrigieren. Ein toller Service, warum wird in der Fehlermeldung nicht direkt auf die Fehlerquelle verwiesen? Das würde auch die Usability deutlich verbessern.
Insgesamt sind leider alle Formulare teilweise nicht zugänglich. Bei einigen Feldern ist die Zuordnung zwischen Beschriftung und Eintrag nicht eindeutig.
Man hält sich bei Xing nicht an die simpelsten UX Patterns. Ein Beispiel: Wenn ich einen Button drücke, erwarte ich eine Erfolgs- oder Fehler-Meldung. Bei XING verändert sich der Button kurz, man wird aber nicht darüber informiert, ob die Änderungen gespeichert wurden oder ob es Einggabefehler gab. Die Änderung ist auch rein visuell, also nicht für Blinde.
Die schlechte User Experience entsteht dadurch, dass offenbar der Event Markt aus der Plattform ausgelagert wurde. Man erstellt und bearbeitet kostenlose Events auf xing.de, wird das Event kostenpflichtig, wird man auf eine andere Plattform umgeleitet, bei der man sich erneut einloggen soll. Diese Plattform wiederum war so unübersichtlich, dass ich gleich darauf verzichtet habe, mich damit zu beschäftigen.

Keine Alternativtexte für Grafiken

Zwar können Grafiken hochgeladen werden. Doch gibt es nicht die Möglichkeit, alternative Beschreibungen für Blinde zu hinterlegen.
Das ist auch deshalb dumm, weil dass sowohl Google als auch die XING-eigene Suchmaschine daran hindert, den Inhalt der Bilder zu indexieren.

Dialogboxen

Der exzessive Einsatz von Lightboxen ist eine der größten Barrieren auf XING. Für Tastaturnutzer und Screenreader-Nutzer poppen sie einfach irgendwo innerhalb der Seite auf, etwa dann, wenn ein Kontakt bestätigt oder eine Anzeige erstellt wird. Die initiale Cookie-Message befindet sich für Blinde am Ende der Tastatur-Reihenfolge. Die Cookie-Meldung war wohl als modaler Dialog gedacht, mit der Maus kann man außerhalb nichts aktivieren, mit der Tastatur allerdings schon.

Gruppen-Administration

Leider sind auch die Funktionen zur Gruppen-Administration für Blinde absolut unzugänglich. Die Funktionen etwa zum Löschen oder Melden von Beiträgen werden blinden Nutzern gar nicht angezeigt.

XING Events ist nicht barrierefrei

Leider ist auch XING Events sowie der Ticket-Shop von XING bezüglich der Buchung von Tickets nicht barrierefrei. Bei diesem Status möchte ich dringend davon abraten, diesen Service für die eigenen Veranstaltungen zu nutzen.

Fazit: XING hat in drei Jahren nichts dazu gelernt

Die ursprüngliche Version dieses Artikels erschien im März 2019. Ich habe ein wenig Verständnis dafür, wenn kleine Plattformen ihre Plattform nicht barrierefrei machen können. Da fehlt schlicht Zeit und Ressourcen. Beides dürfte auf XING nicht zutreffen.
Die beschriebenen Probleme zu beheben ist nun wirklich kein Hexenwerk. Focus Trap für modale Dialoge, ARIA Expanded und Collapsed, anständiges Focus Management, korrekte Beschriftungen, XING ist wirklich keine komplexe Website. Ein paar Dutzend Entwickler:Innen-Stunden dürften reichen. Mir zeigt das Verhalten, dass XING das Thema Barrierefreiheit vollkommen egal ist.

Das Problem ist nicht die Barrierefreiheit, sondern der Prozess

Mookup zur DigitalisierungSagen wir es offen: So, wie Barrierefreiheit heute umgesetzt wird, ist sie teuer, suboptimal und wir werden vielleicht erst in vielen Jahren durchschlagende Erfolge sehen. Nun kostet es Geld, vor allem, weil man es jahrzehntelang verschlafen hat. Die USA haben – im übrigen unter einer konservativen Regierung – vor über 30 Jahren große Teile der Privat-Wirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichtet. Auch in den USA gibt es viele Probleme, doch Deutschland hängt nach wie vor weit hinterher. Obwohl wir wissen, dass wir viele 10000 barrierefreie Wohnungen und Häuser brauchen, obwohl die alternde Bevölkerung auf stufenfreie Zugänge bei Kultur und Verkehr angewiesen ist, obwohl viele Ärzt:Innen-Praxen nicht barrierefrei sind, passiert relativ wenig.
Mir scheint die Ursache des Problems aber relativ klar zu sein. Es ist nicht die Barrierefreiheit an sich, sondern die Art, wie die Prozesse gestaltet sind.
Ein Beispiel: Eine Behörde möchte eine Broschüre erstellen. Person X schreibt den Text, Agentur Y erstellt ein druckbares PDF darauf, Agentur Y macht es barrierefrei. Das für den Druck optimierte, halbwegs barrierefreie PDF wird dann ins Internet gestellt. So banal, so blöd. Würde man eine Stufe früher ansetzen und das Dokument mit einer flexiblen Sprache wie XML gestalten, könnte man das Dokument in einem Schritt für den Druck, für die Website und zum Herunterladen optimieren. Ich bin ja ein bekennender PDF-Hasser, aber selbst ich wäre mit so einem Prozess einverstanden. Nur Sehende glauben an perfekt barrierefreie PDFs, sie müssen sie ja nicht nutzen.
Oder: Behörde druckt Formular aus, Blinder muss es mit fremder Hilfe ausfüllen und an Behörde schicken, Behörde scannt es ein.
Ein weiteres Beispiel: Es gibt ein Set an Corona-Regeln. Würde man einmal das komplette Set in einfache Sprache, Leichte Sprache und Gebärdensprache übersetzen und den Ländern zur Verfügung stellen, könnten die Gesetzgeber:Innen exakt die Regeln in diesen Formaten veröffentlichen, die in ihren jeweiligen Gebieten gelten. Stattdessen wird wenig bis gar nichts in verständlichen Formaten umgesetzt – das Argument, Geld. Es gibt aber ein Menschenrecht auf verständliche Informationen.
Die Kern-Botschaft jedes Barrierefreiheits-Vortrags lautet: Denken Sie Barrierefreiheit von Anfang an mit. Das wird meiner Erfahrung nach kaum beherzigt. Vielleicht sollten wir unsere Botschaft so ändern: Denken Sie Ihre Prozesse auf die Art neu, dass Barrierefreiheit immer von Anfang an mitgemacht und mitgedacht wird.
Ähnlich wie bei der Digitalisierung hängt das Problem wohl damit zusammen, dass große Organisationen und vor allem der öffentliche Dienst sich extrem schwer damit tun, bestehende Prozesse destruktiv anzugehen, also einmal komplett zu überdenken. Es gibt keine Fleißpunkte für Barrierefreiheit und es gibt auch keine Oskars dafür, besonders viel Geld investiert zu haben. Das Ergebnis zählt.
Das führt dazu, dass täglich hundertfach gegen Barrierefreiheit verstoßen wird. Ausschreibungs-Unterlagen müssen barrierefrei sein, sind es aber nach wie vor vielfach nicht, weil die verwendeten Programme keine barrierefreien PDFs erzeugen können. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich geschützte, vom Screenreader nicht lesbare oder gar eingescannte Bilder im PDF erhalte.

Ist Jaws besser als NVDA – Screenreader Wars

Ich nutze jetzt seit rund 20 Jahren Screenreader. Und eine Tendenz ist eindeutig: Die Monopolisierung. Pro Plattform gibt es nur noch ein bis zwei konkurrenzfähige Produkte. Der Rest ist pleite gegangen oder aufgekauft worden, jüngstes Beispiel ist Window Eyes. Es wurde aufgekauft und dicht gemacht. Bis dato war dessen Marktanteil gegenüber Jaws stetig am Steigen.

Jaws – die Wundertüte

Für die einen ist Jaws voller nützlicher Funktionen. Für die anderen ist da eine Menge aufgeblasenes Zeug, das man nie im Leben benötigt. Jaws ist das Microsoft Office unter den Screenreadern. Irgendwas müssen sie ja tun, um die 3000 € pro Jaws-Lizenz zu rechtfertigen. Interessant auch, dass Jaws in den USA wesentlich günstiger ist. In Deutschland hingegen darf man auch für jedes größere Update zahlen.
Leider haben die meisten Blinden nicht verstanden, was der Hauptgrund dafür ist: NVDA ist gewollt schlank. Viele Funktionen sind in die Erweiterungen ausgelagert. Bei den meisten Funktionen von Jaws dürfte es so sein, dass sie vielleicht von einer Promille Blinder verwendet werden. Jede Funktion kann aber auch Bugs mit sich bringen und die Software verlangsamen und unübersichtlich machen. Legendär ist ob seiner Unübersichtlichkeit der Konfigurationsmanager von Jaws.

Jaws frisst die Barrierefreiheit

Eine der schlechtesten Nachrichten für die Barrierefreiheit war meines Erachtens die Übernahme der Paciello Group durch Whispero. Whispero ist der Mutterkonzern von Jaws, Zoomtext und vielen anderen Unternehmen aus diesem Kontext. Jaws und Zoomtext sind übrigens auch nur zugekauft, man fragt sich, ob Whispero irgendwas selbst gemacht hat.
Seit dieser Akquisition kann man TPGi, wie sie sich jetzt nennen eigentlich nicht mehr ernst nehmen. Alles, was man liest ist Jaws hier und Jaws da. Es gibt ernsthaft ein kostenpflichtiges Tool, mit dem man Anwendungen auf Jaws-Kompatibilität testen kann. Die wollen also Geld dafür haben, dass man eine Software auf ihren Screenreader optimiert. Weiter geht der Unsinn mit Jaws Connect – damit sollen Jaws-Nutzer mitteilen können, wenn sie Probleme mit der Barrierefreiheit haben. Das ist so ziemlich das überflüssigste Tool, von dem ich bisher gehört habe.
Nebenbei bemerkt ist Jaws leider für Barrierefreiheits-Tests ungeeignet. Es hält sich nicht an Barrierefreiheits-Standards. Ist ein Formularfeld zum Beispiel nicht gelabelt, versucht Jaws das Label zu erraten. Das funktioniert oft gut und freut die Nutzer. Nur blöd für jene, die kein Jaws nutzen und als Argument hören „Mit Jaws funktioniert es“.

Die Kostenlos-Mentalität der Blinden

Man sieht einmal mehr, wie weit verbreitet die Kostenlos-Haltung unter Blinden ist. Man bekommt beides umsonst: NVDA, weil es eh kostenlos ist, Jaws, weil es die Krankenkasse bezahlt.
Gleichzeitig erwartet man, dass das vielleicht 15 Jahre alte NVDA, das im Wesentlichen von Freiwilligen entwickelt wird die gleichen Leistungen bringt wie ein gut 25 Jahre alter Screenreader, der von einem großen Team entwickelt wird und wahrscheinlich ein zweistelliges Millionenbudget pro Jahr hat. Scheiß drauf, dass das für die meisten Blinden der Welt nicht leistbar ist.
Ein großer Vorteil von NVDA bzw. dem Sprach-Synthesizer eSpeak ist, dass es zahlreiche verschiedene Sprachen gibt. Während die großen Hersteller von Sprachausgaben nur die Sprachen großer oder reicher Länder unterstützen, findet man in eSpeak auch indische oder afrikanische Sprachen, die wie das Leben so ist die großen Hersteller nicht interessieren, weil man mit diesen Regionen nicht genug Geld verdienen kann. Sprachen, die von Dutzenden Millionen Menschen gesprochen werden, abgesehen davon, dass hier die meisten Blinden leben.
Meine Antwort ist also nein: Jaws ist nicht besser. Nicht wegen der Preis- und Update-Politik, nicht wegen des Aufkaufens und Plattmachens der Konkurrenten, nicht wegen der Barrierefreiheit, nicht wegen der schlechten Software-Qualität. Wenn die Leute glücklich mit Jaws sind, dann sollen sie es nutzen, aber daraus generelle Aussagen abzuleiten, halte ich für falsch.

Accessibility Challenge – werden Sie grau

FarbkreisIch bin ja ein Freund von Maßnahmen zur Sensibilisierung. Deswegen starte ich eine kleine Reihe von Challenges, die Interessierte für Barrierefreiheit sensibilisieren sollen. Unsere erste Challenge ist, eine Zeit lang mit Graustufen zu arbeiten.
Hintergrund ist, dass Farbe nach wie vor ein zentrales Merkmal der Kommunikation ist. Der Status eines Elements, Herhorhebungen, Links und so weiter werden häufig ausschließlich über Farbe kommuniziert. Dessen werden wir uns nur bewusst, wenn wir die Farbe ausschalten.
Farb-Fehlsichtigkeit dürfte eine der am weitesten verbreiteten Probleme der Barrierefreiheit sein. Rund 8 Prozent aller Männer und ein Prozent aller Frauen haben damit zu kämpfen. Gleichzeitig dürfte aber Farbe eines der wichtisten Kommunikationsmittel sein.
Das Schöne ist, dass die Graustufen sehr einfach aktiviert und deaktiviert werden können. Legen wir also los. Wir starten mit Windows 10.

Windows 10 in Graustufen

Rufen Sie zunächst das Start-Menü von Windows auf. Geben Sie dann in der Suche „Farbfilter“ ohne Anführungszeichen ein. Rufen sie den entsprechenden Punkt auf.
Screenshot der Farbfilter
Bei der Funktion Farbfilter einschalten aktivieren Sie den Schalter. Darunter können Sie dann den Farbfilter Graustufen aufrufen. Um die Graustufen-Darstellung wieder zu aktivieren, deaktivieren Sie einfach den Farbfilter wieder.
Die unter den Graustufen angezeigten Farbfilter richten sich speziell an Farbenblinde. Sie sollen bestimmte Farben verstärken, die von den Betroffenen nicht erkannt oder unterschieden werden können, sind also für unsere Zwecke nicht sinnvoll.

Für andere Systeme

Graustufen-Filter gibt es auch für andere Betriebssysteme.

Der Sinn der Übung

Natürlich werden wir die Welt nie so wahrnehmen wie jemand mit einer echten Farb-Fehlsichtigkeit. Das Ziel ist lediglich, Sie für das Thema zu sensibiilisieren und außerdem eine leichte Prüf-Möglichkeit an die Hand zu geben.

Die Kluft zwischen Barrierefreiheits-Spezialist:Innen und Betroffenen


In den letzten Jahren beobachte ich, dass die Kluft zwischen Betroffenen und Barrierefreiheits-Spezialist:Innen weiter auseinander geht. In diesem Beitrag möchte ich das an einigen konkreten Beispielen zeigen. Ich lasse mal den Fakt außen vor, dass es auch betroffene Spezialist:Innen gibt.

Nicht-barrierefreie PDFs

PDF können ebenso barrierefrei sein wie barrierefreie Webseiten. Die Betonung liegt auf können. Es ist kein Zufall, dass HTML die Referenz für barrierefreie PDF ist und nicht umgekehrt. In meiner langen Karriere habe ich wenige PDFs gesehen, welche die Qualität einer mittelmäßig barrierefreien Webseite erreicht hatten – bei vergleichbarer Komplexität versteht sich.
Das Problem lässt sich sehr einfach zusammenfassen: PDF ist nicht für Barrierefreiheit ausgelegt und im übrigen auch nicht für Responsivität. Neben Cookie-Bannern sind PDFs eine der nervigsten Usability-Bugs auf Webseiten. Man setzt am falschen Ende an: Statt bereits im Produktions-Prozess das Thema Barrierefreiheit vorzusehen, wird zunächst ein für den Druck optimiertes PDF erzeugt, das hinterher barrierefrei gemacht und ins Internet gestellt wird. Ein teurer und blödsinniger Prozess. Aber alle sind glücklich. Die Anbieter:In muss ihre Prozesse nicht optimieren und die Spezialist:In verdient an jedem Fehler, den die Gestalter:Innen im PDF gemacht haben. Der Betroffene kommt in dieser Geschichte leider nicht vor. Wäre die Barrierefreiheit ein Whodunit-Krimi, wäre der Betroffene das Mordopfer, über ihn wird gesprochen, aber nicht mit ihm.
Den Wenigen, die es hören wollen sage ich, dass ich eine Webseite oder ein Office-Format jedem barrierefreien PDF vorziehe.
Aus User:Innen–Perspektive ist es im übrigen egal, ob es an der assistiven Technologie, am Lese-Programm oder am PDF liegt. Als Nutzer:In möchte man ein Dokument lesen oder damit arbeiten, nicht sich mit Standards und deren Problemen herumschlagen.

Das Language-Attribut

Das Language-Attribut dient dazu, dem Screenreader oder anderen Vorlese-Tools mitzuteilen, in welcher Sprache ein Inhalt vorgelesen werden möchte. Die meisten fortgeschrittenen Sprachausgaben-Nutzer:Innen, die ich dazu befragt habe, schalten den automatischen Sprachwechsel ab. Den Hintergrund habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt. Sicherlich gibt es Blinde, die mehrsprachig unterwegs sind und denen es nichts ausmacht, wenn der Screenreader ständig die Sprache ändert. Das ist allerdings eine Minderheit. Jeder mir bekannte Screenreader erlaubt das manuelle Umschalten der Synthesizer-Sprache, aber nicht alle erlauben die Abschaltung des automatischen Sprachwechsels.
Bei den Spezialist:Innen, etwa bei den Verantwortlichen des BITV-Tests, geht das in einem Ohr rein und zum anderen raus. Sie verlangen, dass jedes Fremdwort mit der entsprechenden Sprache ausgezeichnet wird.

Alternativtexte

Die meisten Diskurse mit Spezialist:Innen habe ich bezüglich Bild-Beschreibungen. Die Seite X erzeugt aus dynamischen Daten Diagramme. Das verwendete Framework erzeugt automatisch eine Bild-Beschreibung, in welche etwa die Zahl der Säulen oder Balken und deren Werte zusammengefasst werden. Dazu auch noch auf Englisch auf einer deutschen Webseite.
Ich sage, hier ist eine – vorhandene – CSV tatsächlich die bessere Alternative. Es mag Fälle geben, in denen die Form des Diagramms und deren visuelles Aussehen für einen Blinden relevant ist – mir fällt allerdings keiner ein. Der Spezialist sagt mir aber, die Richtlinie XY schreibt einen Alternativtext vor.

Barrierefrei, aber eine Usability-Katastrophe

Viele Anwendungen sind auf dem Papier barrierefrei, aber eine reine Katastrophe, was die Usability angeht. Mein Lieblings-Beispiel ist hier Microsoft Teams sowohl auf dem Desktop als auch auf dem Browser. Microsoft hat hier das schlechteste aus zwei Welten – Desktop und Mobil – zusammengenommen und daraus eine schicke Anwendung für Sehende gemacht. Für Blinde ist die Anwendung eine reine Katastrophe. Das schnelle Bewegen innerhalb der App erofrdert das Auswendig-Lernen zahlloser Tasten-Kombinationen. Die App ist dermaßen verschachtelt, dass man häufig 10 mal klicken muss, um einen gewünschten Bereich zu erreichen.
Und das gilt auch für zahlreiche andere Anwendungen. Sollte sich, wie absehbar, ein großer Teil der Software in den Browser oder halbe Web-Apps verlagern wird es immer schwieriger.
Mir graut ein wenig vor der Zukunft, in der wir solche Programme nutzen müssen. Wenn sich nicht drastisch etwas in der Software-Entwicklung oder in den assistiven Technologien ändert, sehe ich für Blinde mit IT-Bezug keine effiziente Arbeits-Möglichkeit mehr.

Fazit

Ich bin ja eigentlich ein lösungs-orientierter Mensch. Leider kann ich in diesem Fall keine Lösung anbieten. Vielleicht gehört es auch zum Spezialistennentum,, sich für allwissend zu halten und sich für die Meinung Betroffener nicht mehr zu interessieren. Es ist ja auch interessant, dass man Millionen für formale Tests aufwendet, aber Nutzer:Innen-Tests angeblich zu teuer sind.
Für mich persönlich habe ich die Konsequenz gezogen, mich mit vielen Spezialist:Innen gar nicht mehr zu unterhalten. Ich setze auf Personen, die neu in das Thema einsteigen bzw. sich nicht hauptsächlich mit Barrierefreiheit beschäftigen. Dort bin ich auf deutlich mehr Offenheit gestoßen.

Zum Weiterlesen

Die perfekte Hindernis-Erkennung für Blinde

TreppenaufgangFür Blinde ist die Erkennung von Hindernissen eine große Herausforderung. Große Hindernisse von der Hüfte bis zum Fuß lassen sich mit dem Blindenstock überwiegend gut ausmachen. Kopf und Oberleib hingegen sind vom Stock überhaupt nicht erfasst. Dazu kommt das Problem, das manche Hindernisse zu spät erfasst werden. Natürlich käme auch ein Blindenführhund als Hilfe in Frage, das ist aber nicht für jeden Blinden das Richtige.
In den letzteJahren haben sich diverse Zusatz-Geräte entwickelt, die bei der Erkennung von Hindernissen helfen sollen. Sie basieren auf Infrarot oder Ultraschall und informieren per Vibration oder Ton über Hindernisse. Die Geräte verbergen sich in Schuhen, als Erweiterung des Blindenstocks oder als anderes Wearable. Große Begeisterung hat keines dieser Geräte ausgelöst, soweit ich die Situation kenne. Hier also ein paar Ideen, wie eine Hindernis-Erkennung perfektioniert werden kann. Ich sage ausdrücklich dazu, dass ich von den bisher verfügbaren Geräten noch keines ausprobiert habe und deren Fähigkeiten daher nicht beurteilen kann.

Anpassbarkeit ist entscheidend

Es gibt große, kleine, schmale und breite Menschen. Eine Hindernis-Erkennung kann nur etwas taugen, wenn sie an die diversen Körpergrößen angepasst werden kann. Ansonsten sendet sie zu viele irrelevante Warnungen aus.
Bei Blinden arbeitet man in der Regel mit der Analogie einer Analog-Uhr, um die Position eines Hindernisses anzusagen. 3 Uhr ist rechts, 6 Uhr ist links, 12 Uhr ist geradeaus und so weiter. Daneben wäre noch die Position eines nicht-massiven Hindernisses wie eines Rückspiegels oder eines Astes interessant. Auch das müsste ein entsprechendes Tool ansagen, dafür ist wiederum die Körpergröße und -Breite einer Person wichtig. Dazu reicht die Ansage des Körperteils, also zum Beispiel: „Ast auf Kopfhöhe rechts“, „Rückspiegel auf Hufthöhe links“ etc.
Daneben wäre es sinnvoll, wenn eine lernende Software-Lösung verwendet wird. Menschen laufen unterschiedlich schnell, das ist ein wichtiger Faktor. Wird man zu spät vor einem Hindernis gewarnt, stolpert man darüber, wird man zu früh gewarnt, weiß man nicht, was man tun soll.
Die Krux aller Lösungen ist der Grad an Warn-Genauigkeit. Werden zu wenige Warnungen ausgesendet, kann man im Zweifelsfall auf das Gerät verzichten. Werden zu viele Warnungen ausgesendet, verunsichert das die tragende Person und hilft ebenfalls nicht weiter. Nun ist das natürlich auch eine Frage der persönlichen Vorlieben, auch deshalb wäre ein lernender Algorithmus wichtig.

Intelligente Objekt-Erkennung

Eine intelligente Objekt-Erkennung wäre sinnvoll. Das klingt komplizierter als es ist. Es gibt im Straßenverkehr eine Handvoll Objekte, die immer wiederkehrt: Pfähle von Schildern und Laternen, Fahrräder, Roller, Autos, Mülltonnen, Aufsteller, Tische und Stühle von Cafés, Hauswände, Stufen von Treppen, Zuäune oder Absperrungen von Baustellen, niedrige Mauern… Daneben gibt es natürlich noch lebendige, also sich eventuell bewegende Dinge wie Menschen, Hunde bzw. bewegte Objekte wie Fahrräder, Roller und Autos. Eine Objekt-Erkennung könnte einem sagen, was man vor sich hat, wo es sich ungefähr befindet und ob sich das Objekt bewegt.
Bei beweglichen Hindernissen wäre es natürlich toll, wenn die Software in etwa ermitteln kann, wohin sich das Objekt bewegt. Für einen Blinden ist wichtig, ob die Person ihm entgegenkommt, den Weg kreuzt oder ganz woanders hingeht, selbiges natürlich bei Fahrrädern, Autos etc.
Eine Objekt-Erkennung im weiteren Sinne gibt es bereits. So kann die iPhone-App SeeingAI bereits Szenen beschreiben.
Weiß der Blinde, was für ein Hindernis er vor sich hat und kennt seine ungefähre Position, kann er sich sein Verhalten zurechtlegen. Ein Roller erfordert ein anderes Verhalten als ein Fahrrad oder eine Person, die im Weg steht.
Ein Problem bisheriger Lösungen ist, dass sie nur aufragende Hindernisse erkennen können. Das gilt insbesondere für Geräte, die nicht am Oberkörper befestigt sind. Nun sind aufragende Hindernisse natürlich wichtig, gefährlich sind aber auch Hindernisse wie nach unten führende Treppen oder gar Gruben. Solche Objekte können meines Erachtens nur mit intelligenter Objekterkennung erkannt und beschrieben werden.

Integrierte Gesamt-Lösung

Im Augenblick bin ich tatsächlich abgeneigt, mir weitere Geräte zuzulegen. Stand-Alone-Geräte haben sicherlich ihre Berechtigung. Aber gerade für die Besitzer von Smartphones wären integrierte Gesamt-Lösungen besser. Besitzt man ohnehin eine smarte Kamera, die etwa Text erfassen kann, sollte diese auch die Hindernis-Erkennung übernehmen.
Für das oben dargestellte Szenario wäre ohnehin ein Computer notwendig. Zwar kann man im Prinzip überall ein kleines Betriebssystem einbauen. Aber die Software aktuell zu halten ist mit solchen Geräten eher schwierig. Und es wäre auch Ressourcen-Verschwendung. Wozu zwei Computer, wenn das Smartphone ohnehin die nötige Rechenpower hat?

Fazit

Wir haben gesehen, dass das Thema extrem komplex und nicht einfach zu lösen sein wird. Wir haben zum Beispiel gar nicht über das Thema Beleuchtung gesprochen. Bei Infrarot-Strahlung oder Ultraschall spielt es keine Rolle, ob es hell oder dunkel ist. Bei den hier vorgeschlagenen Systemen geht es aber eher um Kamera-basierte Geräte, die auf ausreichend Beleuchtung angewiesen sind.
Klar ist, die Basis der Orientierung wird bis auf absehbare Zeit der Blindenstock und das persönliche Orientierungsvermögen bleiben. Ein Blindenführhund kann den Blinden auf dem Hund bekannten Wegen führen oder Hindernissen ausweichen, aber er kann keine Umgebungen erkunden oder komplexere Ausweich-Routen herausfinden. Alle Geräte haben die Neigung, im unpassenden Moment kaputt zu gehen oder entladen zu sein. Die Klicksonar-Technik und ähnliche Methoden haben vielen Menschen geholfen, vielen Anderen aber nicht.