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Fortschritt in der digitalen Barrierefreiheit messen – Maturity Model oder Reifegradmodell


Wie an anderer Stelle gesagt ist es wichtig, Barrierefreiheit systematisch zu messen und zu dokumentieren. Vor allem, wenn man das Ziel einer stetigen Verbesserung verfolgt, muss man mit harten Daten arbeiten. Alles Andere läuft unter gefühlter Verbesserung und wird spätestens kassiert, wenn die Geschäftsführung wechselt. Wie ebenfalls anderswo ausgeführt ist die Datenbasis elementar für Fortschritt, das Controlling ist einer der wichtigsten Zweige der Führung einer Organisation. Was nicht in Zahlen gefasst werden kann ist nicht relevant.
Eine Möglichkeit, um dies zu tun ist das Reifegrad-Modell, im Englischen bekannt als Maturity Model. Hier gibt es verschiedene Modelle, die jeweils an die Organisation angepasst werden sollten.

Was ist ein Reifegrad-Modell?

Ein Maturity Model, auf Deutsch „Reifegradmodell“, ist ein Instrument zur Bewertung und Verbesserung von Prozessen und Praktiken in Organisationen oder Projekten. Es bietet eine strukturierte Methode zur Einschätzung der Reife und Wirksamkeit von Aktivitäten in einem bestimmten Bereich. Im Kontext der digitalen Barrierefreiheit zielt ein Maturity Model darauf ab, den Fortschritt bei der Schaffung barrierefreier digitaler Inhalte zu bewerten. Ein bekanntes Modell kommt von der Web Accessibility Initiative. Teils gibt es aber auch an bestimmte Branchen wie Hochschulen angepasste Modelle. Viele Modelle sind auch kostenpflichtig, wobei diese meines Erachtens aber keinen Vorteil bieten gegenüber dem, was frei verfügbar ist.

Die Struktur eines Maturity Models:

Ein Maturity Model besteht typischerweise aus verschiedenen Reifegradstufen oder -stufen, die den Fortschritt in einem bestimmten Bereich darstellen. Diese Stufen werden oft als Maturity Levels bezeichnet und können von Modell zu Modell variieren. Ein einfaches Beispiel für Maturity Levels in der digitalen Barrierefreiheit könnte sein:

  1. Anfangsstufe: In dieser Phase sind nur grundlegende Maßnahmen zur Barrierefreiheit ergriffen worden, und die Einhaltung der Standards ist minimal.
  2. Entwicklung: Es werden verstärkte Anstrengungen unternommen, um die Barrierefreiheit zu verbessern, aber sie ist noch nicht vollständig integriert.
  3. Konsolidierung: Die Barrierefreiheit ist eine etablierte Praxis in der Organisation, aber es gibt noch Raum für Verbesserungen.
  4. Exzellenz: Die Organisation hat Spitzenleistungen in der digitalen Barrierefreiheit erreicht und dient als Vorbild für andere.

Die Anwendung des Maturity Models in der digitalen Barrierefreiheit:

Die Anwendung eines Maturity Models in der digitalen Barrierefreiheit beginnt oft mit einer umfassenden Bewertung der bestehenden digitalen Inhalte und Prozesse. Dies kann sowohl eine interne Bewertung als auch eine externe Überprüfung durch Barrierefreiheits-Expertinnen oder Prüfstellen einschließen.
Anhand der Ergebnisse dieser Bewertung können Organisationen ihren aktuellen Reifegrad in Bezug auf die digitale Barrierefreiheit bestimmen. Auf dieser Grundlage können sie gezielte Maßnahmen zur Verbesserung ergreifen und einen klaren Plan zur Erreichung höherer Maturity Levels entwickeln.
Ein wesentlicher Vorteil der Anwendung eines Maturity Models besteht darin, dass es Organisationen ermöglicht, ihren Fortschritt im Laufe der Zeit zu verfolgen und messbare Ziele für die digitale Barrierefreiheit zu setzen. Dies schafft Transparenz und Rechenschaftspflicht und hilft, die Integration der Barrierefreiheit in die Unternehmenskultur zu fördern.

Warum ist das Maturity Model wichtig?

Das Maturity Model ist in der digitalen Barrierefreiheit von entscheidender Bedeutung aus mehreren Gründen:

  1. Messen des Fortschritts: Es bietet eine klare Methode, um den Fortschritt bei der Schaffung barrierefreier digitaler Inhalte zu messen und zu verfolgen.
  2. Ressourcenoptimierung: Organisationen können gezielt Ressourcen für die Bereiche zuweisen, in denen Verbesserungen am dringendsten erforderlich sind.
  3. Rechenschaftspflicht: Ein Maturity Model schafft eine klare Grundlage für die Berichterstattung und Rechenschaftspflicht in Bezug auf die digitale Barrierefreiheit.
  4. Verbesserung der Benutzererfahrung: Eine höhere Stufe im Maturity Model führt zu einer verbesserten Benutzererfahrung für alle, unabhängig von ihren Fähigkeiten.

Faktoren für ein Maturity-Modell für Ihre Organisation

Die folgenden Faktoren können als Basis für ein Reifegrad-Modell für digitale Barrierefreiheit in Ihrer Organisation dienen.

  1. Compliance mit Standards und Richtlinien: Die Einhaltung anerkannter Barrierefreiheitsstandards und -richtlinien ist ein entscheidender Faktor. Dies kann die Überprüfung der Einhaltung von Standards wie WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) einschließen.
  2. Barrierefreie Technologie: Die Verwendung von barrierefreien Technologien, Software und Entwicklungstools ist wichtig. Dies schließt die Nutzung von Technologien ein, die die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen.
  3. Organisatorische Verpflichtung: Die Organisation sollte klare Richtlinien und Verpflichtungen zur Barrierefreiheit haben. Dies umfasst die Zuweisung von Verantwortlichkeiten, Schulungen und Sensibilisierungsmaßnahmen.
  4. Barrierefreie Inhalte und Dokumentation: Die Bewertung der Barrierefreiheit von Webseiten, Dokumenten und Multimedia-Inhalten ist entscheidend. Dies kann auch die Bereitstellung barrierefreier Alternativen für nicht zugängliche Inhalte einschließen.
  5. Barrierefreiheitsbewertungen und -tests: Die Durchführung regelmäßiger Barrierefreiheitstests und -prüfungen, sowohl automatisiert als auch manuell, ist wichtig, um den Status der Barrierefreiheit zu bewerten.
  6. Schulung und Sensibilisierung: Die Schulung von Mitarbeitern und Beteiligten in Bezug auf Barrierefreiheit ist entscheidend. Dies kann die Schulung von Entwicklern, Designern und Redakteuren, aber auch die Sensibilisierung des gesamten Teams umfassen.
  7. Benutzerfeedback und Benutzererfahrung: Die Einbeziehung von Benutzerfeedback, insbesondere von Menschen mit Behinderungen, und die Verbesserung der Benutzererfahrung sind wichtige Indikatoren.
  8. Interner Entwicklungsprozess: Der Grad der Integration der Barrierefreiheit in den gesamten Entwicklungsprozess, von der Konzeption bis zur Umsetzung, ist von Bedeutung.
  9. Barrierefreiheitszertifizierungen: Die Teilnahme an unabhängigen Barrierefreiheitsprüfungen und -zertifizierungen kann den Reifegrad der Barrierefreiheit belegen.
  10. Barrierefreie Kommunikation: Die Fähigkeit zur barrierefreien Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen ist ein wichtiger Aspekt der digitalen Barrierefreiheit.
  11. Monitoring und Reporting: Die Überwachung der Barrierefreiheit und die Erstellung von Berichten über den Fortschritt sind entscheidende Faktoren, um den Status der Barrierefreiheit zu verfolgen.
  12. Integration von Barrierefreiheit in die Unternehmenskultur: Die Integration von Barrierefreiheit als grundlegendes Prinzip in die Unternehmenskultur ist besonders wichtig.

Fazit

Wie immer gilt, dass ein Reifegradmodell nicht zum Angucken da ist. Die Erhebung sollte der erste Schritt in einer Barrierefreiheits-Strategie sein. Dazu gehört also auch eine regelmäßige Prüfung auf weitere Verbesserungen und natürlich das Starten von Maßnahmen dort, wo Schwächen festgestellt wurden.
Generell ist das Reifegrad-Modell vor allem für große und komplexe Organisationen wie Hochschulen und Behörden geeignet. Gibt es eigentlich eine Organisation in Deutschland, die so ein Modell betreibt, mir zumindest ist keines bekannt.

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Warum Sie digitale Barrierefreiheit daten-basiert betreiben sollten


Digitale Barrierefreiheit wird bislang eher unstrukturiert abgearbeitet. Probleme werden durch manuelle Tests, Rückmeldungen oder auch eher zufällig gefunden. In diesem Beitrag geht es darum, warum Sie die digitale Barrierefreiheit auf Daten basierend weiterentwickeln sollten und wie Sie das umsetzen können.

Gründe für ein daten-basiertes Vorgehen

Viele Websites sind sehr komplex, was die Zahl der Unterseiten, der Beteiligten und der Komponenten angeht. Inhalte werden verändert, Formulare eingefügt, Social-Media-Content eingebettet, Komponenten ausgetauscht. Das manuelle Monitoring auf Barrierefreiheit ist dabei kaum umsetzbar.
Hinzu kommt, dass heutzutage viele Entscheidungen auf Daten basieren: Sei es die Suchmaschinenoptimierung, die Erfolgsmessung für den Content oder auch die User Experience. Digitale Barrierefreiheit ist bislang die Ausnahme.
Das kann echte Nachteile mit sich bringen: Wer nicht weiß, wo er mit der Barrierefreiheit steht, kann keine Erfolge oder Verschlechterungen messen. Dann ist es schwierig, die Mittel gegenüber den Vorgesetzten zu rechtfertigen.
Wie oben gesagt ist es schwierig, ein komplexes Web-Projekt auf Barrierefreiheit zu prüfen, vor allem wenn viele unterschiedliche Personen die Website pflegen. Nehmen wir an, ein Kollege setzt auf einer Unterseite ein Formular aus Versehen nicht barrierefrei um. Bei einem großen Web-Auftritt fallen solche Probleme kaum auf. Ein Prüf-Tool würde die Seite testen, sobald sie publiziert ist und könnte Hinweise geben.

Tools zur automatisierten Barrierefreiheits-Messung

Automatische Prüftools können bis zu 35 Prozent der Probleme der Barrierefreiheit auf einer Website aufspüren. Wir gehen davon aus, dass durch Künstliche Intelligenz die Tools in Zukunft immer mehr Probleme finden können.
Es gibt zahlreiche Programme, die alle eine webbasierte Oberfläche haben. Zu den bekannteren Anwendungen gehören Siteimprove, Silktide, Wave, Deque axe Monitor® oder WebAIM Wave. Die meisten uns bekannten Tools basieren auf axe-core, einer offenen Bibliothek für automatisierte Barrierefreiheits-Tests als Basis. Der Prüf-Umfang ist deshalb relativ ähnlich, wobei natürlich jeder Anbieter die Funktionalität auch erweitern kann.
Zudem verfügen einige Redaktionssysteme über Erweiterungen, die ähnliche Zwecke erfüllen oder sogar schon im Backend Probleme aufspüren können.
Diese Tools sind ein bequemer, wenn auch unzureichender Weg, um Daten zu erheben. Leider fehlt es bisher an Tools, die auf qualitiativer Ebene arbeiten.

Grenzen und Gefahren automatischer Tools

Wie oben gesagt können etwa 35 Prozent der Probleme automatisch aufgespürt werden. Das heißt, dass ca. zwei Drittel der Probleme auf anderem Wege gefunden werden müssen. Ein einfaches Beispiel sind Beschriftungen: Bislang kann ein Tool nur erkennen, dass Alternativtexte oder Formular-Labels vorhanden sind. Ob diese sinnvoll sind, kann das Tool nicht beurteilen. Ein automatisches Prüf-Tool kann insbesondere durch den aus den Problemen generierten Score die Verantwortlichen in falscher Sicherheit wiegen. Es kann immer nur ein Teil einer umfassenden Barrierefreiheits-Strategie sein.
Daten sind vor allem dann sinnvoll, wenn damit gearbeitet wird. Es ist zwar gut zu wissen, dass es Probleme gibt. Noch besser ist es, diese systematisch abzuarbeiten. Das heißt, eine Spezialistin für Barrierefreiheit sollte sich die Probleme anschauen, priorisieren und daraus Anforderungen für die Entwicklung, das Design oder die Redaktion erstellen.
Es ist sinnvoll, diese Aufgabe durch eine Spezialistin für Barrierefreiheit erledigen zu lassen. Das Problem besteht darin, dass diese Tools auch Probleme anzeigen, die in Wirklichkeit keine sind.
Die automatische Prüfung kann andere Prozesse nicht vollständig ersetzen. Nach wie vor müssen die Redakteurinnen zum Beispiel wissen, wie Informationsgrafiken gestaltet, Texte strukturiert oder Bilder beschrieben werden. Ein Prüf-Tool kann immer nur ergänzend zu einem guten Barrierefreiheits-Workflow eingesetzt werden.
Dennoch halten wir die Vorteile für größer als die Risiken.
Why you should operate digital Accessibility on Data

4.1.1 Parsing Warum Webseiten und PDF gerade ein Stück barrierefreier geworden sind

Screenshot des W3C Validators
Im Vorgriff auf die irgendwann anstehende WCAG 2.2 hat die WAI einen ungewöhnlichen Schritt gemacht. Sie hat den Prüfschritt 4.1.1 für obsolet erklärt. Hinweis: Die WCAG 2.2 wurde im Hrbst 2023 veröffentlicht, wird aber erst für Deutschland gültig, wenn das in die entsprechende Richtlinie EN 301549 übernommen wird.

How and why is success criteria 4.1.1 Parsing obsolete?
Success criteria 4.1.1 Parsing is obsolete. That’s documented in:
• WCAG 2.2 4.1.1 Parsing (Obsolete and removed)
• updated WCAG 2.1 that incorporates errata, 4.1.1 Parsing Notes, WCAG 2.1 changelog
• WCAG 2.0 errata
• Understanding documents
Parsing was included in WCAG 2.0 to ensure that browsers and assistive technologies could accurately parse markup and content. Since then, specifications (such as HTML) and browsers have improved how they handle parsing errors. Also, previously assistive technology did their own markup parsing. Now they rely on the browser.
With today’s technology, accessibility issues that would have failed 4.1.1, will fail other criteria, such as Info and Relationships (SC 1.3.1) or Name, Role, Value (SC 4.1.2). Therefore 4.1.1 is no longer needed for accessibility.

Quelle
Der Schritt ist ungewöhnlich, weil an der bestehenden WCAG eigentlich ebensowenig geführt wird wie am Neuen Testament.
Bei dem Kriterium 4.1.1 bzw. 9.4.1.1 wird überprüft, ob der HTML-Code valide ist. Wenn Sie schon mal einen Prüfbericht bekommen haben, haben Sie sicher schon mal diese oft sehr lange Liste von Fehlern im Quellcode bekommen, die dann mühsam abgearbeitet werden musste. Mich hat diese Prüfung nie so richtig überzeugt und es tat mir immer leid, dass ich das den Kunden aufdrücken musste. Nun hat selbst die WAI erkannt, dass das überflüssig ist.
Nun wurde es sogar rückwirkend für 2.1 abgeschafft. Das hat dazu geführt, dass viele Webseiten und PDF auf einen Schlag barrierefreier geworden sind.
Hintergrund ist, dass viele der „Studien“ zur Barrierefreiheit auf automatisierten Tools basieren. Diese Tools können exzellent messen, was automatisch messbar ist, also etwa nicht-validen Code. In der Tat ist das einer der häufigsten Fehler bei Webseiten oder PDF.
Während das an einigen Stellen sinnvoll ist, führt es an anderen zu zeitaufwendigen Mikro-Optimierungen vor allem bei PDF. Das liegt auch daran, dass Prüftools wie der PDF Accessibility Checker gerne selbst Bugs enthalten, die Umsetzenden sind dann gezwungen, die PDFs für den PAC zu optimieren weil das der Maßstab für Leute ist, die keine Ahnung von barrierefreien PDF haben. Fehlerhaft verschachtelte Tags kommen auf Webseiten heutzutage hingegen selten vor, da die Tags durch Software erzeugt oder durch Editoren automatisch korrigiert werden. Außerdem, so die WAI, sind Browser und assistive Technologien inzwischen besser darin, die Codefehler aufzufangen.
Ich kenne zahlreiche Kunden, die jetzt aufatmen werden, nicht weil ihnen Barrierefreiheit nicht liegt, sondern weil diese Mikro-Optimierungen viel Zeit und Ressourcen verschlungen haben, die man sinnvoller investieren kann. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist sinnvoll, den HTML und CSS-Code auf Fehler hin zu validieren. Aber ein fehlender Schrägstrich hat meines Wissens selten die Barrierefreiheit wesentlich beeinflusst. Ebenso sinnfrei sind viele Rückmeldungen des PDF Accessibility Checkers. Diese Tools zwingen uns dazu, für möglicherweise schlecht gemachte Algorithmen zu optimieren statt für die Nutzenden. Beim PDF Accessibility Checker ist bekannt, dass er zahlreiche Bugs hat, die nach Jahren oder auch nie repariert werden. Dennoch wird ein sauberer PAC-Bericht als Qualitäts-Merkmal eines barrierefreien PDF betrachtet.
Das überflüssige Language-Attribut aka Sprachwechsel 3.1.2: Language of Parts bleibt leider bestehen. Irgendwer in der WAI hat offenbar ein Herz für Mikro-Optimierungen.

Sind Roboter-Blindenführhunde die Zukunft?

Verrückte Idee – kommt ja auch von mir. Nachdem ich gesehen habe, dass es mittlerweile Roboter-Hunde zu kaufen gibt, erscheint das aber gar nicht so absurd.
Zunächst einmal braucht niemand Angst zu haben, dass ich ihn seinen Wauwau wegnehmen werde, das könnte ich eh nicht. Allerdings ist die Entwicklung interessant.
Immerhin gibt es viele Blinde, die physisch oder psychisch nicht in der Lage sind, sich um einen Hund zu kümmern. Es ist auch kein Geheimnis, dass es Blindenführhunde gibt, die schlecht gehalten werden, auch wenn man das Problem in der Szene totschweigt. Tierquälerei, darunter fällt auch die Vernachlässigung der Tiere, ist leider nicht selten. Ich habe einige Hunde gesehen, die sich wund geleckt hatten, die geschlagen oder mit dem Halsband gewürgt wurden.
Daneben gibt es leider auch viele schlechte Hundetrainer. Auch ein Thema, dass in der Szene nur hinter vorgehaltener Hand besprochen wird. Ich weiß von Fällen, wo Hunde mit Psychosen gegenüber Fahrrädern an blinde Personen weitergegeben wurden. Ein anderes Problem ist, dass Hunde häufig nicht adäquat ausgelastet werden. Wenn man 99 Prozent der Zeit ohnehin nicht vor die Tür geht und den Hund machen lässt, was er möchte hat er das Führen irgendwann verlernt.
Ein weiteres Problem ist , dass Hunde selbst Probleme haben können: Sie können krank oder alt werden, sie können einfach den Dienst verweigern oder abgelenkt sein.
Der Vorteil von Roboterhunden ist, dass sie all die gesundheitlichen, sozialen oder psychischen Probleme nicht haben. Außerdem entfällt ein Großteil des Trainings – der größte Kostenfaktor bei Hunden.
Weiterhin kann man in Roboter-Hunden beliebige Sensoren verbauen. Sie können Treppen steigen, beliebige Hindernisse erkennen und auch Ampeln auslesen. In Moskau gibt es Roboter, die Pakete ausliefern, dafür müssen sie zuverlässig den Verkehr, Hindernisse und Gefahren einschätzen können. Blinden-Führhunde können übrigens keine Ampeln interpretieren und sich auch keine komplexen Strecken einprägen, die sie nicht regelmäßig gehen, Robo-Hunde benötigen lediglich ein Navi oder eine gespeicherte Route.
Natürlich kann der Hund auch für die jeweilige Person optimiert werden. Aktuell muss der Hund sowohl von der Größe als auch vom Temperament zum Besitzer passen.
Andererseits kann man sich mit Robo-Hunden buchstäblich nicht anfreunden. Es sind Geräte und keine Lebewesen. Man wird also keine persönliche Beziehung dazu aufbauen. Aus meiner Sicht kein Problem. Aber nach meiner Wahrnehmung gibt es einige Blinde, die eher einen Beziehungspartner auf Staatskosten als einen Führhund haben möchten.
Natürlich können Hunde mehr als nur führen. Für die Führungs-Aufgaben könnten Robo-Hunde aber eine wichtige Rolle übernehmen. Und ja, ich würde sofort einen nehmen.

Wettbewerbs-Nachteil: mangelnde Barrierefreiheit

Es gibt eine interessante Regelmäßigkeit: Wenn man bei einem international oder zumindest im anglo-amerikanischen Raum tätigen Anbieter von Software nach Barrierefreiheit sucht, wird man fast immer fündig. Es ist nicht immer VPAT oder ähnlich aussagekräftig, aber zumindest findet man ein Statement.
In Deutschland gilt genau das Gegenteil: Sucht man nach Barrierefreiheit zum Produkt, findet man meistens nichts oder etwas sehr Allgemeines. Das ist mir bei diversen Alternativ-Lösungen zur Online-Kollaboration aufgefallen. Vor allem aus Datenschutz-Gründen möchte man ein wenig weg von US-amerikanischen Anbietern. Man hat also die Wahl zwischen Pest (mangelnder Datenschutz) und Cholera (mangelnde Barrierefreiheit). Ein aktuelles Beispiel ist TaskCards, welches auf die Frage nach Barrierefreiheit antwortet, dass sie das nicht unterstützen – mit anderen Worten, kein Plan, um das Thema anzugehen.

Am Kunden vorbei entwickelt

Es spricht denke ich für sich, dass viele deutsche Anbieter das Thema Barrierefreiheit gar nicht auf dem Schirm haben. Und das, obwohl sie ihre Programme vor allem an staatliche Organisationen oder öffentliche Einrichtungen verkaufen wollen, die ja zur Barrierefreiheit verpflichtet sind. Im Vordergrund stehen vor allem die Schulen und allgemein der Bildungssektor. Aktuell fällt es mir aber auch bei vielen Arztpraxen auf. Sie setzen externe Tools zur Termin-Buchung ein, von denen bisher keines barrierefrei war, welches ich gesehen habe.
Barrierefreiheit scheint für viele dieser Unternehmen ein Feature zu sein, kein Muss. Keines dieser Unternehmen würde mit öffentlich bekannten Mängeln zum Datenschutz online gehen, aber Barrierefreiheit – das kann man irgendwann später einbauen oder auch lassen.

Den Markt nicht verstanden

Das spricht leider für einen Mangel an Weitsichtigkeit. Seien wir mal ehrlich: In den letzten 20 Jahren hat man das Thema Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor größtenteils nicht ernst genommen – die erste BITV ist über 20 Jahre alt. Aber der Druck und das Bewusstsein dafür sind gestiegen.
Das heißt, im Zweifelsfall kann ein anderer US-amerikanischer Anbieter das Rennen machen. Ich bin absolut kein Experte für Datenschutz, aber nach meiner Erfahrung ist das Thema bei den meisten internationalen Anbietern auf dem Schirm. Ansonsten könnten sie sich auch gar nicht auf dem Markt der EU einbringen. Teams und WebEx werden auf breiter Front in öffentlichen Institutionen in Deutschland eingesetzt, alternative Anbieter aus der EU spielen bisher keine Rolle. Mittlerweile hat etwa auch der Bundesstaat Kalifornien ähnliche Bestimmungen für den Datenschutz wie die EU.
Auch wenn ich die Passion für den Datenschutz hierzulande nicht teile, finde ich es gut, auch alternative Lösungen in Erwägung zu ziehen. Ich nutze Zoom nicht, weil ich Monopole so toll finde, sondern weil ich selber Veranstaltungen hoste und diese steuern können muss. Für meinen Newsletter nutze ich einen nicht-barrierefreien, aber DSGVO-konformen Anbieter. Wenn es eine Alternative gibt, die ebenso gut für mich und andere Teilnehmende funktioniert wie Zoom, würde ich sie gerne nutzen, auch wenn sie ein wenig teurer ist. Bisher ist mir keine untergekommen. Big Blue Button zum Beispiel hat sich gemacht, ist aber wegen der Tonqualität für eine Person mit Hörschädigung nicht so gut nutzbar.
Klar, es gibt einen eklatanten Mangel an Fachkräften, vor allem an Software- und Web-Entwicklerinnen mit Barrierefreiheits-Kenntnissen. Dann muss man die Leute halt dazu qualifizieren. Es ist ja nicht so, als ob es ein esoterisches Hexenwerk ohne jegliche Schulungs-Materialien wäre. Das Thema wird ja in fünf Jahren nicht weg sein und bei jeder anderen Sache würde man auch die Leute qualifizieren. Nur bei Barrierefreiheit wird ein Theater bei der Weiterbildung gemacht.
Sicherlich gibt es auch Probleme, die mit aktueller Technik kaum lösbar scheinen. Dazu gehören die Themen Mindmaps oder Whiteboards. Diese ganzen visuellen Dinge, die auf Pfaden basieren sind recht schwierig barrierefrei umzusetzen. Hier würde ich mir aber zumindest den Mut wünschen, neue Dinge auszuprobieren und es zumindest zu versuchen. Wie es Taskcards macht, das Thema einfach abzubügeln finde ich nicht korrekt.
Doch reden wir hier auch von Alltags-Technologien wie einem Buchungs-Tool für Arzt-Termine: Das Tool soll mir 1. anzeigen, welche Termin-Slots noch frei sind und 2. mich den Termin buchen lassen. Das ist mit Verlaub Pipifax und scheitert zumeist an schlechten Frameworks und der mangelnden Fähigkeit der Entwickler. Da ist schlicht der Wille nicht da, es barrierefrei umzusetzen.
Hier bin ich ausnahmsweise bei den Bonzen der FDP: Wenn jemand seinen Job nicht richtig macht, dann sollte man den Anbieter austauschen. Man sollte jene belohnen, welche sich von Anfang an um Barrierefreiheit bemühen.

Fazit

Wie oben gesagt vermute ich eher, dass man da die Marktforschung vernachlässigt hat – Stichwort Compliance. Datenschutz ist Pflicht, Barrierefreiheit ist Pflicht – ohne diese Aspekte kann man keine Software an den öffentlichen Sektor verkaufen. Barrierefreiheit nachzurüsten ist wie die Arbeit zwei Mal zu machen, für ein KMU kaum zu stemmen. Man sollte es also von Anfang an mitdenken.
Auch finde ich, dass der öffentliche Dienst keine Software mehr einkaufen sollte, die nicht barrierefrei ist. Diesbezüglich wurde die Privatwirtschaft in den letzten Jahrzehnten verhätschelt.

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Zurück zu Präsenz – ein Rückschritt für die Barrierefreiheit


Ich bin ja immer skeptisch, wenn Megatrends ausgerufen werden. Als die großen Lockdowns vor rund 3 Jahren losgingen und Corona unser Leben längere Zeit einschränkte, sind viele davon ausgegangen, dass dies die digitale Revolution auslösen würde, auf die viele von uns solange gewartet haben. Es würde weniger Reisezirkus geben, wir würden mehr Online-Meetings machen und die Regelungen zum Home Office würden großzügiger werden.
Das mag bei vielen Organisationen der Fall sein, es scheint mir jedoch eher die Ausnahme zu sein. Im Gegenteil, viele Organisationen kehren zur alten Präsenz-Realität zurück. Spätestens seit 2023 werden Remote-Optionen großflächig reduziert und Online-Optionen bei Veranstaltungen abgeschafft. Viele der großen amerikanischen Tech-Konzerne gehen hier ausgerechnet voran: Nicht unerwartet, dass viele dieser Unternehmen von gesunden reichen Männern geführt werden, die sich vermutlich seit ihrem Studentendasein nicht mit dem öffentlichen Verkehr beschäftigen mussten und nie Care-Arbeit für Kinder oder Angehörige übernehmen mussten. Mein Eindruck ist, dass es hierbei mehr um Macht als um die behaupteten Produktivitäts-Vorteile geht.
Auch von Freunden und Bekannten höre ich, dass Remote-Optionen schrittweise abgeschafft werden. Es finden wieder Meetings statt, für welche die Leute stundenlang – gerne mit dem Flugzeug oder PKW – anreisen. Viele Konferenzen finden wieder präsent ohne Remote-Option statt. In Zeiten wie diesen kann man das ruhig ökologischen und ökonomischen Unsinn nennen. Kennt ihr das, wenn man erst mal bei Google Maps nachschlagen muss, in welcher Stadt sich ein Veranstaltungsort für ein Event befindet?
Für viele behinderte Menschen dürfte das ein Rückschritt in Sachen Barrierefreiheit sein. Das gilt vor allem für Menschen, die auf den ÖPNV angewiesen sind. Für Nicht-Behinderte ist das Stress, für behinderte Menschen oft eine Tortur.
Ich persönlich habe übrigens nichts gegen die Arbeit im Büro oder gegenPräsenz-Veranstaltungen, ich habe das lange gemacht und solange es keine Pendelei bedeutet, werde ich das immer vorziehen. Ich habe aber den Vorteil, dass ich zentral in einer Großstadt wohne und fast alles zu Fuß oder schnell mit dem ÖPNV erreichen kann. Zudem habe ich keine chronische Erkrankung, bei der ich mich vor typischen Erkrankungen der Atemwege fürchten müsste. Auch wenn es hier oft anders klingt, ziehe ich persönliche Begegnungen der Online-Kommunikation vor. Allerdings sollte alles verhältnismäßig sein. Das war es teilweise vor Corona nicht und es schaut so aus, als ob es wieder so wird.
Home Office hat zahlreiche Vorteile, die für behinderte Menschen besonders stark gelten. Man ist etwa häufiger örtlich gebunden, zum Beispiel wegen einer barrierefreien Wohnung oder wegen sozialer Bindungen. Der ÖPNV ist weit davon entfernt, barrierefrei zu sein, das gilt leider auch für viele Organisations-Gebäude, Veranstaltungs- oder Übernachtungs-Orte.
Daneben muss man feststellen, dass Corona durchaus nicht weg ist. Für Personen mit Lungen- oder anderen chronischen Erkrankungen kann es wie andere Atemwegs-Infekte nach wie vor eine schwere Erkrankung bedeuten. Wenn Remote-Optionen jetzt nach und nach wegfallen, werden diese Personen benachteiligt. Sie können an Veranstaltungen und den damit verbundenen Vorteilen der Vernetzung, dem Austausch und der Erhöhung der eigenen Bekanntheit nicht teilhaben. Und sie können selbst nicht referieren, also ihre eigene Reputation erhöhen.
Eine Gruppe, an die dabei selten gedacht wird sind chronisch erkrankte Personen. Selbst der Unaufmerksamste sollte mittlerweile gemerkt haben, dass schlecht gelüftete Konferenzräume, Kantinen, Großraum-Büros und der ÖPNV Keimstätten für Viren und Bakterien sind. Wenn man sich längere Zeit in geschlossenen Räumen aufhält, spielen Dinge wie Abstand und Hände-Waschen für Infektionen kaum noch eine Rolle. Lüften im Großraum-Büro im Winter ist fast unmöglich, falls es überhaupt etwas bringt. Die Luft wird ja vor allem in der Nähe der Fenster ausgetauscht, die Kälte kriegen dann die Leute am Fenster ab, die dafür sorgen, dass das Fenster schnell wieder geschlossen wird.
Mein Fazit ist, dass Arbeitgebende und Veranstaltende das Thema Remote/hybrid wieder ernster nehmen sollten. Remote löst sicher nicht alle Probleme aber es kann das Leben vieler behinderter Menschen – und im übrigen auch vieler anderer Personen – deutlich erleichtern. Man redet so viel über New Work. Das sollte sich aber nicht in schicken – nicht barrierefreien – Kaffee-Maschinen oder spacigen Büro-Designs erschöpfen.
Ich denke, dass wir zumindest was Veranstaltungen angeht etwas tun können: Schreibt die Veranstaltenden an, dass sie ihre Events online oder hybrid gestalten sollen.

Ein Relaunch des BIENE-Wettbewerbs wäre fällig

Den Jüngeren muss ich es erklären, Ältere bekommen verzückte Augen, wenn sie an den BIENE-Wettbewerb denken. 2010 gab es die letzte Ausgabe des Wettbewerbs für barrierefreie Webseiten der Aktion Mensch und der Stiftung Digitale Chancen. Eine Neuauflage könnten wir heute gut gebrauchen.
Der Wettbewerb hat für zahlreiche Dienstleister Anreize gesetzt, sich besonders stark um Barrierefreiheit zu bemühen. Am Ende ging es natürlich darum, einen Preis zu gewinnen und damit zusätzliches Prestige zu bekommen. Was aber auch okay ist, man kann das Richtige aus falschen Gründen tun. Aktuell gibt es für neue Dienstleister wenig Möglichkeiten, sich in diesem Bereich zu etablieren. Ein Wettbewerb würde den Anreiz erhöhen, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Selbiges galt auch für zahlreiche Organisationen: Wir kennen das ja schon aus anderen Bereichen: Es gibt ja so viele journalistische Preise, dass jede Journalistin mindestens einmal im Jahr einen gewinnen und sich damit schmücken müsste. Ich erinnere mich an einen Onlineshop, den man ohne den BIENE-Wettbewerb vermutlich nicht gekannt hätte.
Das Ganze hat auch einen gewissen PR-Effekt gehabt. Es war nicht superviel, aber immerhin hat auch außerhalb der Fachpresse Kommunikation über digitale Barrierefreiheit stattgefunden. Für mein Gefühl hat das Interesse am Thema in den Publikumsmedien nachgelassen.
Leider ist eine Wiederbelebung des Wettbewerbs nicht zu erwarten. Ich darf nicht zuviel verraten, aber der Aufwand hinter dem Wettbewerb war enorm, der fachliche Beirat, das Sichten der Einreichungen, die Übergabe etc. haben viel Geld und Personal gekostet. So was kann nur eine wohlhabende Organisation wie die Aktion Mensch stemmen, da ist aber bezüglich digitaler Barrierefreiheit meines Erachtens nichts mehr zu erwarten. Auch Bundesministerien oder -Ämter könnten die finanziellen und personellen Ressourcen aufbringen, hier weiß ich aber nicht, ob das aus ihrer Sicht opportun wäre. Immerhin wollen sie ja auch ihre eigenen Websites einreichen.
Für große Unternehmen wäre es kein Problem, einen solchen Wettbewerb zu finanzieren. Allerdings gibt es für sie kaum einen Grund, das zu tun. Es gibt keine großen Barrierefreiheits-Agenturen in Deutschland. Und natürlich könnte man sich nicht selbst prämieren.
Aber träumen wir einmal weiter: Wie müsste ein solcher Wettbewerb heute aussehen? Natürlich müsste er über Websites hinausgehen: Native Apps, Leichte-Sprache-Texte oder eBooks bzw. PDFs müssten ebenfalls prämiert werden. Das schnöde Abprüfen von WCAG-Kriterien wäre nicht sinnvoll. Vielmehr müsste ein Gesamtpaket aus technischer Prüfung, User Experience für Behinderte und visueller Attraktivität bewertet werden. Das ist kompliziert, aber durchaus machbar.
So eine Art Publikumspreis fände ich auch nicht schlecht: Also dass Lösungen auch von behinderten Menschen bewertet werden.
Einen so großen Beirat halte ich hingegen nicht mehr für sinnvoll. Wir brauchen neue Wege der Partizipation, das heißt aber nicht, dass jeder Verband mitreden sollte.
Aus den oben genannten Gründen glaube ich nicht, dass es noch mal so einen Wettbewerb geben wird. Wünschen kann man es sich allerdings.

Warum Sie Barrierefreiheits-Veranstaltungen boykottieren sollten


Gefühlt ist jeder Tag ein Diversity-Tag, eine Woche oder ein Monat. Aktuell ist der Disability-Pride-Month – was auch immer das sein mag, ich habe es gepflegt ignoriert. Vielleicht brauchen Nicht-Behinderte solche Ereignisse, damit sie sich so richtig inklusiv fühlen und das auch zeigen können. Den Rest des Jahres kann man dann mit dem guten Gewissen verbringen, etwas getan zu haben.

Symbolik ist etwas

Es wird heute – zumindest in meiner Blase – viel mehr über Inklusion und Diversität diskutiert, als sagen wir vor 10 Jahren. Ich sage bewusst Blase, weil das außerhalb unserer Gruppe die Wenigsten kümmert. ES ist nicht so, dass sie dagegen sind, es spielt in ihrem Leben einfach keine große Rolle. Viele mittelständische und einige große Unternehmen werden von Personen geführt, die nicht alte weiße Männer sind, auf der zweiten und dritten Führungsebene sieht es schon besser aus. Ob es Diversity war oder schlicht der Mangel an Alternativen lasse ich mal dahingestellt. Und die meisten Leute finden das in Ordnung oder akzeptieren es. Wir hören halt von den Fällen, wo es nicht funktioniert. Die Situation ist nach wie vor schlecht, aber sie wird langsam besser, zumindest für einige Gruppen.
Leider hat das Web und Social Media zu einem Übermaß an Symbolik geführt. Man zeigt seine Unterstützung für quere Menschen, indem man sein Profilbild in Regenbogenfarben einfärbt. Man zeigt Unterstützung für alle möglichen Themen, indem man auf Like oder Teilen klickt. Ich verrate euch mal was: Das Klima wird nicht durch Like-Buttons gerettet. Und Teilen von irgendwelchen Inhalten hat noch niemanden von dummen Ideen befreit. Das Teilnehmen am Christopher Street Day macht eure Organisation nicht querfreundlich. Das Nutzen der Ukraine-Flagge hilft den Ukrainern kein Stück in ihrem Kampf. Das Abgrenzen von Rechten hilft Personen mit Migrations-Hintergrund nicht dabei, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Für meinen Geschmack ist das reine Selbst-Inszenierung: Man zeigt der eigenen Bubble, dass man auf der richtigen Seite steht und legt ansonsten die Hände in den Schoß. Narzissmus ist das Erfolgs-Geheimnis von Social Media.
Es mag richtig sein, Idioten auch öffentlich zu widersprechen. Meines Erachtens ist es aber wie Pudding an die Wand nageln. Einen eingefleischten Rechten wird man mit einer Diskussion wahrscheinlich nicht von seiner Einstellung abbringen, erst recht nicht,indem man ihn anschreit. Auch der eigenen Bubble mitzuteilen, wie blöd man dessen Einstellung findet, bringt niemandem was, denn die eigene Bubble ist ja sowieso auf deiner Seite. Sinnvoll wäre es, mit jenen zu sprechen, die zu einer Diskussion bereit sind, aber dafür sind wir zu bequem, dafür müsste man ja das Smartphone weglegen.

Aber Symbolik kann nicht alles sein

Gegen Symbolik ist an sich nichts einzuwenden. Das Problem beginnt dann, wenn man Symbolik mit Handeln verwechselt. Manchmal – so mein Eindruck – sollen solche Aktionen einfach überdecken, dass die jeweilige Organisation keine konkreten Handlungen ergreift, um mehr diverse Mitarbeitende einzustellen oder die Vorhandenen zu unterstützen. Es ist ein Green Washing für Inklusion. Heute bin ich eher misstrauisch, wenn Organisationen solche Dinge kommunizieren. Da sind mir die Leute lieber, die etwas Sinnvolles tun und nicht danach die dreifache Energie in die PR stecken, damit auch jede erfährt, was sie getan haben. Mir sind sogar die Leute lieber, die nichts tun und nichts sagen, die sind ehrlicher.
Eine Organisation ist nicht deshalb inklusiv oder barrierefrei, weil sie eine Kampagne nach der anderen für diese Themen durchführt – die Expertise lässt sie dann von Nicht-Behinderten vorführen. Es tut mir leid, wenn ich das immer wiederhole: Reden ist nicht Handeln, Worte sind geduldig: ich kann 1000 Mal am Tag sagen, dass ich inklusiv bin, aber das macht mich nicht inklusiv. Ich kann tausend PR-Kampagnen zur Barrierefreiheit durchführen, das macht mich nicht barrierefrei. Die Aktion Mensch ist mit ihrer aktuellen Kampagne für barrierefreie Onlineshops ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.

Inklusion und Barrierefreiheit im Old-Style-Way

Auch die deutsche Barrierefreiheits-Community hat meine Kritik leider nicht verstanden: Es reicht heute nicht mehr zu sagen, dass man sich für Barrierefreiheit einsetzt: Es geht auch darum, dass man behinderten Menschen die Chance gibt, selbst als Expert:Innen zu sprechen. Das passiert nicht, wenn eine Diskussionsrunde aus lauter Nicht-Behinderten besteht. Wenn es diese behinderten Expert:Innen kaum gibt, dann liegt es unter anderem auch an den verkrusteten Strukturen, die kaum Neulingen die Chance gibt, sich zu etablieren. Es ist kein Zufall, dass Grauhaarige heute die Panels zur Barrierefreiheit dominieren und die jüngste Person in der Runde 50 ist. Auch Menschen, die sich glaubhaft für Barrierefreiheit einsetzen können verhindern, dass behinderte Menschen partizipieren.
Eigentlich ist man sich ja einig, dass Panels und andere Institutionen divers besetzt sein sollten, nur bei Inklusion und Behinderung scheint das nicht zu gelten. Jüngstes Beispiel ist die Barrierefreiheits-Konferenz 2024 des Rheinwerk-Verlages. Ein bisschen enttäuscht bin ich vom Rheinwerk-Verlag. Während das erste Programm vermutlich schnell zusammengestellt werden musste, hätte man bei der dritten Auflage mehr Chancen gehabt. Nicht nur die Vortragenden, auch die Themen sind so konventionell, dass man zwei Mal hinschauen muss, um die Unterschiede zu den vorherigen Konferenzen zu erkennen. Auch musste ich darüber nachdenken, ob das jetzt ein Barrierefreiheits-Panel oder eine Versammlung alter hellhäutiger Personen sein sollte – es ist beides.
Es scheint auch ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, dass man Leute, die irgendwas mit Inklusion und Barrierefreiheit machen (oder so tun als ob) nicht kritisieren darf. Weil sie sind ja die Guten. Sorry Leute, jede darf jeden kritisieren und man kann auch mit guter Absicht Blödsinn machen. Genauso müssen auch Behinderten-Aktivistinnen damit zurechtkommen, dass sie kritisiert werden, wenn die Kritik konstruktiv ist.
Mir geht es nicht darum, dass Nicht-Behinderte etwas Falsches sagen, auch Behinderte können Unsinn von sich geben. Behinderte Menschen dabei zu haben ist kein Wert an sich, sondern zeigt einfach deutlich, dass es auch behinderte Expert:innen gibt. Es wird nicht nur über sie gesprochen. Natürlich sprechen behinderte Menschen auch ganz anders über Barrieren als Leute, die das nur aus dritter Hand kennen. Und schließlich zeigt die Anwesenheit behinderter Menschen, die sich kompetent äußern können ein Stück weit, dass Inklusion und Barrierefreiheit erfolgreich waren, ansonsten würden sie ja nicht dort sitzen. Natürlich sind auch behinderte Menschen wichtig, die sagen, dass dieses und jenes nicht funktioniert. Das Bild wird aber schief, wenn Behinderte sagen, was nicht funktioniert und der Nicht-Behinderte, wie man das repariert. Das verfestigt einmal mehr den Fürsorge-Gedanken.
Aktuell erzählt eine Dame von Google Deutschland in einem Video, wie wichtig Tastatur-Bedienbarkeit ist. Und ich frage mich, ob sie überhaupt weiß, wovon sie redet: Hat sie mal einen ganzen Tag lang versucht, ohne Maus zurechtzukommen? Google ist vielleicht das beste Beispiel, wenn es um mangelnde Barrierefreiheit bei einem großen Unternehmen geht, da hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Vielleicht sollten sie Google-intern einmal eine Sensibilisierung machen.
Ich erinnere mich mit Grauen an eine Runde von Microsoft Deutschland, in der mehrere Personen über Barrierefreiheit diskutiert hatten. Keiner von denen hatte eine Behinderung und auch thematisch keinen echten Bezug zu digitaler Barrierefreiheit. Was für ein Bild gibt das ab? Ich hatte intern bei meinem damaligen Auftraggeber auf dieses Problem aufmerksam gemacht, was Microsoft aber ziemlich egal war. Das ist einige Jahre her, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie daraus etwas gelernt haben. Wahrscheinlich nicht. Bei solchen Events geht es mehr um Name Dropping – irgendwelche Leute bzw. Firmen, die man kennt und die deshalb einen Pull-Effekt haben. Von dem Thema müssen sie nichts verstehen, im Zweifelsfall haben sie Angestellte, die die Sprechzettel für sie schreiben.
Die Veranstaltungen sind auch deshalb wichtig, weil sie den Referentinnen Prestige verleihen. Für Newbies ist es recht schwierig, Bekanntheit zu erlangen. Da ist es sinnvoll, wenn sie die Chance haben, auf Konferenzen aufzutreten. Wie das nicht geht, sieht man bei der für 2024 geplanten Konferenz des Rheinwerk-Verlages, wo sie wieder die überwiegend männlichen Senioren der deutschen Barrierefreiheits-Szene eingeladen haben. Bei der dritten Auflage hätte man wirklich mal ein paar neue Gesichter und Themen reinmischen können, aber offenbar war das zu anstrengend. Aber der Umsatz wird trotzdem stimmen.

Mehr handeln, weniger reden

Eine Organisation kann sich dann inklusiv und barrierefrei nennen, wenn sie ihre Angebote barrierefrei gestaltet und behinderte Menschen nicht nur als Testimonials verwendet, sondern sie auch zu Themen sprechen lässt, die nicht unmittelbar mit der eigenen Situation zu tun haben. Es geht meines Erachtens nicht darum, perfekt inklusiv und barrierefrei zu sein. Das sind Prozesse, keine Zustände.
Es geht darum, eine Strategie zu entwerfen, Maßnahmen einzuleiten, Fortschritte zu messen und problematische Bereiche aufzuzeigen. Die kann man kommunizieren. Alles andere ist reine PR. Practice what you preach, Wasser predigen und Wein saufen – leider gibt es in unserem Sektor sehr viele Organisationen, die sich ihrer Doppel-Moral nicht bewusst sind. Oder sie sind sich dessen bewusst und kümmern sich nicht darum. Wenn die größten Betreiber von Behindertenwerkstätten eben jene Werkstätten kritisieren, passt das nicht zusammen.
Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Der gesamte Nonprofit-Bereich ist alles andere als divers. Viele stehen auf dem Standpunkt, dass sie eine gute Sache vertreten und schon deshalb inklusiv und divers sind und dass man sie nicht kritisieren darf, weil sie ja Nonprofit sind und das Gute wollen. Allerdings sind einige Privat-Unternehmen deutlich weiter, was die Diversität ihrer Belegschaft angeht.
Wie viele von den großen Nonprofit-Organisationen werden von Frauen, Queren, Behinderten oder Migrations-Hintergründigen geführt? Mir fällt spontan keiner ein. Wie viele haben einen Aktionsplan zur Inklusion? Eine öffentlich zugängliche Diversity-Strategie? Eine Strategie zur allgemeinen Barrierefreiheit? Wie viele von den großen Wohlfahrtsverbänden folgen in ihren lokalen Einrichtungen noch dem Fürsorge-Gedanken und haben einfach nur Inklusion vorne draufgeklebt? Bei wie vielen Organisationen stimmt das öffentlich gezeigte Bild nicht mit den internen Verhältnissen überein?
Ich weiß es tatsächlich nicht. Aber es dürften mehr Exklusive sein, als uns lieb ist. Und wie gesagt ist das nicht das Problem. Das Problem ist, dass das Problem nicht wahrgenommen und keine Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Nonprofits sind im Endeffekt ebenso macht- und eliten-orientiert wie Wirtschafts-Unternehmen oder Behörden, nur dass sie das besser kaschieren können. Um hier aufzusteigen, muss man den richtigen Hintergrund haben und frühzeitig sein Netzwerk gesponnen haben. Leider haben das die meisten Personen aus Minderheiten nicht und insofern keine Chance, außerhalb der Selbsthilfe-Organisationen eine führende Position zu erlangen.
Man muss seine Rechte einfordern und dafür kämpfen. Der gute Wille der Barrierefreiheits-Senior:Innen wird nicht dazu führen.
Für mich persönlich habe ich den Schluss gezogen, dass ich nur noch als Experte und nicht mehr als Testimonial auftreten werde. Mehr kann ich leider nicht tun.

Wai und WCAG brauchen eine Revolution


Die Web Accessibility Initiative WAI und die WCAG sind die Säulen der digitalen Barrierefreiheit. Leider sind sie auch ähnlich flexibel wie Säulen, wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte.
Eine Warnung vorweg: Dieser Artikel dürfte für Leute nicht interessant sein, die sich nur am Rande mit Barrierefreiheit beschäftigen. Ich kann nicht alle Kontext-Infos einbauen, die zum Verständnis relevant wären. Ansonsten wäre der Artikel noch viel länger geworden.

Einige Probleme der WCAG 2.x

Die WCAG 2.x hat mit aus meiner Sicht zahlreichen gravierenden Problemen zu kämpfen, die sie nicht wirklich zukunftsfest macht. Ich greife die hier aus meiner Sicht wichtigsten auf.
Bisher war die WCAG recht robust. Allerdings kommt sie aus einem Zeitalter statischer Webseiten und ist für dynamische Anwendungen nicht gerüstet. Zahlreiche Anforderungen wie die von Sehbehinderten, kognitiv Behinderten oder neuro-diversen Personen werden unzureichend abgedeckt. Gleichzeitig erscheint es nicht wünschenswert, die jetzt schon sehr unübersichtlichen Kriterien noch weiter aufzublähen. Wichtige Themen sind zum Beispiel dynamisch generierte Meldungen, Tastenkombinationen (die im Web zu kompliziert sind), mehr Fokus auf Anpassbarkeit und vieles mehr.
Die WCAG selbst soll technik-agnostisch sein. Allerdings nicht ganz konsequent, da der Begriff „Web“ im Namen steckt. Die WCAG selbst besteht aus etwas kryptischen Erfolgskriterien, die erst im Zusammenspiel mit den „Understanding“ und „How to meet“-Dokumenten wirklich verständlich werden. Ich empfehle meinen Schulungs-Teilnehmerinnen immer zuerst die „Understanding“-Dokumente zu konsultieren, die WCAG selbst ist IMO nur für Expertinnen geeignet. Auch das Zusammenspiel dieser Dokumente untereinander und mit den Techniques ist für Außenstehende nicht immer klar. Das ist informativ, jenes normativ, das gilt für Version X, jenes für Version Y, wer blickt da noch durch.
Auch das Konformitäts-Modell aus A, AA und AAA ist nicht immer verständlich. Die Begründung, warum bestimmte Kriterien als A, AA oder AAA eingestuft wurden sind nicht transparent. Warum ist das wichtige Thema Kontraste erst ab AA verpflichtend?
Auch das Prinzip der vollen Konformität ist überholt. Ich habe das Problem anhand der WebAIM-Analyse ausführlich erklärt. Wenn es fast kein komplexes Angebot gibt, welches vollständig konform ist, dann scheint da irgendwas nicht zu funktionieren. Entweder sind alle zu blöd oder der Aufwand zu Konformität steht in keinem gesunden Verhältnis zum Resultat. Tatsächlich halte ich das Prinzip der vollständigen Konformität für das größte Manko der WCAG, das eher heute als morgen abgeschafft werden sollte. Es ist einer der Gründe für den Erfolg der Accessibility Overlays. Die volle Konformität ist der Elefant im Raum, über den keine der Expertinnen spricht.
Das Problem ist nicht die Konformität an sich, sondern die unterschiedliche Interpretation durch Expertinnen. Es reicht schon eine Expertin, die sagt, das Kriterium X sei nicht konform, schon ist der ganze Web-Auftritt nicht barrierefrei. Auf Seite X fehlt ein Alternativtext für ein rirrelevantes Bild – der Webauftritt ist nicht konform. Wie soll man das als Dienstleister einem Kunden empfehlen? Es führt zu unzähligen Mikro-Optimierungen mit geringem bis keinem Wert für behinderte Menschen. Aber es ist eine der Haupt-Einnahmequellen für Barrierefreiheits-Experten. Und eine der Gründe, warum viele Developer uns hassen, weil viele Dinge nicht plausibel begründet werden können. Volle Konformität bedeutet nicht, dass eine Web-Anwendung vollständig durch behinderte Menschen bedienbar ist. Halbe Konformität macht eine Anwendung nicht vollständig unbedienbar.
Oft genug sagen wir, dass die WCAG Richtlinien und keine Regeln sind. Dennoch bestehen viele von uns dogmatisch darauf, dass genau unere Interpretation der Richtlinien beim Kunden eingehalten wird. Es ist zu viel Subjektivität und persönlicher Geschmack in den Interpretationen.
Immerhin wurde mit der WCAG 2.2 das Kriterium 4.1.1 Parsing abgeschafft, einer der weniger sinnvollen Kriterien. Leider geht das nur mit Zeitverzögerung in die nationalen Verordnungen ein.
Die ganz großen wie Amazon, Microsoft, Apple und Google formulieren ohnehin ihre eigenen Standards. Amazon Deutschland etwa hält sich für barrierefrei, obwohl die Cookie-Message seit Jahren nicht barrierefrei umgesetzt wird. Google macht viele seiner Business-relevanten Programme wie Analytics oder die Search Console nicht barrierefrei und schließt damit Blinde vom Arbeitsfeld SEO und Analytics aus. Microsoft Bing hat es nach X Jahren nicht geschafft, seine Standard-Cookie-Message barrierefrei zu machen. Und alle feiern sich selbst für ihre Anstrengungen in Sachen Barrierefreiheit.
Auch die Verteilung der Erfolgskriterien erschließt sich nicht unmittelbar. Es gibt zum Beispiel einen Prüfschritt Info and Relationsships, in welchem etwa geprüft wird, ob Überschriften und maschinenlesbare Beschriftungen vorhanden sind. In einem anderen Prüfschritt Headings and Labels wird geprüft, ob die Beschriftungen sinnvoll sind. Es gibt einen Prüfschritt, in welchem das Vorhandensein visueller Beschriftungen geprüft wird und einen weiteren Prüfschritt an einer ganz anderen Stelle, der prüft, ob der maschinen-lesbare Name Teil der visuellen Beschriftung ist. Aus der internen Logik ergibt das Sinn, weil diese Erfolgskriterien jeweils anderen Guidelines zugeordnet sind. Von der Systematik der Prüfung hingegen ist das nicht wirklich sinnvoll. Wenn man sich die Beschriftung anschaut, kann man in einem Schritt prüfen, ob sie sinnvoll, maschinenlesbar, visuell vorhanden, mit dem maschinenlesbaren Namen synonym ist und ob ein Auto Complete wenn nötig vorhanden ist.
Neben sinnvollen Kriterien steckt auch viel Unsinn in der WCAG wie das Language Attribut. Auch die AutoComplete-Anforderung (1.3.5: Identify Input Purpose ) halte ich nicht für sinnvoll: Das kann client-seitig besser gelöst werden. 1.4.10: Reflow fordert, das Inhalt bei 320 Pixel nutzbar ist, eine Breite, die kein aktuelles Smartphone mehr besitzt.
Generell ein wichtiges Thema ist die Frage der Verständlichkeit: Die WCAG und ihre informativen Understanding, und How-to-meet-Dokumente ist alles Mögliche, aber für Außenstehende verständlich ist sie nicht. Es bleibt die Frage, ob sie ein Expertinnen-Dokument sein soll – was sie defacto heute ist – oder eine Hilfe für Personen, die nicht knietief in der Barrierefreiheit stecken und sie anwenden wollen – das ist sie heute nicht. Im Grunde muss man immer alle 60 A- und AA-Kriterien kennen, um sie anwenden zu können. Aber nebenbei liest sich niemand in 60 Kriterien ein. D.h. im Grunde bräuchte jede Organisation mit einem digitalen Angebot einen Barrierefreiheits-Spezi – absolut illusorisch.
Ein weiteres Beispiel ist die komplizierte Übersetzungs-Politik. Ich war ganz am Rande an der offiziellen deutschen Übersetzung der WCAG 2.1 beteiligt, die es bis heute nicht gibt. Die Übersetzung wurde von kompetenten Leuten kompetent durchgeführt. Bis heute ist mir nicht klar, warum sie abgelehnt wurde, aber das war auch das Ende der Bemühungen der Übersetzung ins Deutsche. So schnell wird es keine neue Übersetzung mehr geben.
Es ist richtig, dass die WCAG sich bewährt hat. Im Großen und Ganzen dürfte sie die meisten Use Cases abdecken und braucht nicht so viele Updates. Das ist auch gut so, wenn man bedenkt, dass 10 Jahre zwischen 2.0 und 2.1 lagen und inzwischen fast fünf Jahre zwischen 2.1 und 2.2, obwohl es sich jeweils um relativ kleine Änderungen handelt. Viele konkrete Anforderungen werden auch eher in den nicht-normativen Dokumenten wie etwa den ARIA Authoring Practices behandelt, die so scheint es schneller aktualisiert werden.

Die Web Accessibility Initiative braucht eine Reform

Andererseits erscheint die WAI wie viele Standardisierungs-Institutionen zu einem bürokratischen Monster zu verkommen. Diese unendlichen Diskussionen sind einerseits erklärbar, wenn man den Impact der Regeln bedenkt – schließlich sind sie für fast jeden auf der Welt, der mit Technik zu tun hat irgendwie relevant. Andererseits kann man mit der Entwicklung nicht Schritt halten. Das ist auch daran erkennbar, dass die WAI wenig zu elektronischen Dokumenten (ausgenommen ePub), nativen Apps und Desktop-Software zu sagen hat und sich praktisch vollständig auf Websites und Web-Anwendungen konzentriert. Es ist richtig, dass Desktop-Software an Relevanz verliert, das gilt aber nicht für native Apps.
Die 10 Jahre von WCAG 1.0 zu 2.0 waren noch erklärbar. Nicht aber die zehn Jahre von 2.0 zu 2.1 und fünf Jahre von 2.1 zu 2.2. Bedenkt man, dass Behörden mindestens noch einmal fünf Jahre brauchen, um diese Verordnungen in nationales Recht umzusetzen, muss man einfach feststellen, das wir hoffnungslos hinterherhängen.
Die WCAG sollte sich ähnlich dynamisch entwickeln können wie HTML5, um neuen Entwicklungen nicht mehr hinterherzulaufen. Für die lahmen Behörden und alle Anderen könnte man, wie es bei Browsern heute üblich ist, eine stabile Version der Richtlinien anbieten, für die Anderen die WCAG dynamisch weiterentwickeln.
Die Prozesse der WCAG sind pseudo-demokratisch. Ja, jede Person kann sich beteiligen – theoretisch. Praktisch muss man viel Zeit, tiefe technische Kenntnisse, perfektes technisches Englisch und einige weitere eigenschaften haben. Auch der Umgangston in den Mailinglisten ist teils rauh, wenn man nicht Teil der Clique oder wirklich viel Ahnung hat, also nichts für sanfte Gemüter. Ich zweifle nicht daran, dass alle Beteiligten sich viel Mühe geben. Aber jede kann sich beteiligen und einbringen ist etwas Anderes als die Leute offen dazu einzuladen. Im Augenblick ist die WAI kein gutes Beispiel für Inklusion. Sie erinnert an andere ehrwürdige Einrichtungen wie die Wikipedia, wo man erst mal seine Sporen verdienen muss, um überhaupt ernst genommen zu werden. Das Gremium ist für junge Menschen nicht interessant.
In heutigen Zeiten braucht man andere Möglichkeiten der Mitbestimmung, die einerseits diversere Gruppen einbinden, andererseits auch schnellere Entscheidungen ermöglichen. Warum gibt es zum Beispiel kein Wiki, welches die Diskussion niedrig-schwelliger als GitHub machen würde?
Meines Erachtens muss es auch möglich werden, über die WCAG hinauszugehen, ohne vom Kunden gefressen zu werden. Es ist zwar schön, dass die WAI Empfehlungen für die Gestaltung für kognitiv behinderte Menschen gibt, aber nicht so schön, dass Empfehlungen unverbindlich sind.

Ist WCAG 3 die Antwort

Das Problem der parallelen Existenz mehrerer Regelwerke lässt sich lösen. Die bisher geplanten Änderungen werden nicht alle alten Regeln über Bord werfen. Das heißt, was WCAG-2.x-AA-konform ist, wird wahrscheinlich auch 3.0-konform sein. Durch Übergangs-Fristen kann für alte Angebote sichergestellt werden, dass sie nach und nach die wenigen neuen Anforderungen erfüllen. Neue Angebote können nach einer gewissen Frist direkt mit 3.0 einsteigen. Auch heute schon existieren WCAG 2.0 und 2.1 parallel. Die 2.2 wird wahrscheinlich ebenfalls parallel zu den beiden anderen existieren, da einige Länder nach wie vor WCAG 2.0 als Standard festgeschrieben haben.
Aus vielen Erfahrungen haben wir gelernt, dass man die Erwartungen nicht zu hoch hängen sollte. Wir werden so oder so enttäuscht sein. Falls die WCAG 3 überhaupt kommt, woran ich aktuell eher zweifle, wird sie ein paar Probleme lösen und ein paar neue schaffen. Für mich steht allerdings fest, dass die WCAG 2.x aufgrund der oben genannten Probleme im Grunde nicht zukunftsfähig ist. Schnellere Updates der Dokumente sind nötig. Das aktuelle System der WAI zur Aushandlung scheint nicht so wirklich zu funktionieren, so dass man auf aktuelle Entwicklungen nicht gut reagieren kann.
Aktuell würde ich keine Wette darauf annehmen, dass es überhaupt eine WCAG 3 gegen wird, eher glaube ich daran, dass George Martin das Lied von Eis und Feuer bis 2030 fertig bekommt.

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Warum „Barrierefreiheit ist teuer“ diskriminierend ist

Wohl kaum etwas ist so relativ wie das Wort teuer. Barrierefreiheit ist so teuer, höre ich von vielen Kunden, natürlich nicht offen, aber das Ghosting nach dem Angebot spricht für sich.
Nun ist es richtig, dass Barrierefreiheit teuer ist, vor allem, wenn man aus der Perspektive einer Privatperson darauf schaut. 1000 € pro Tag und mehr sind kein Pappenstiel. Und doch relativiert sich alles, wenn man einmal selbständig war. Dann wundert man sich eher, dass Handwerkerinnen wie Friseure, Klempner und so weiter mit den hohen Kosten und dem nicht so üppigen Einkommen zurecht kommen, ganz zu schweigen von der unendlichen deutschen Bürokratie.
Sonderbar ist auch, wofür dann doch Geld ausgegeben wird. Was kostet zum Beispiel eine Image-Broschüre, ein eigener Font, ein Image-Video oder gar ein komplettes Corporate Design, welches zahlreiche Körperschaften der öffentlichen Hand an Externe beauftragen? Kleiner Tipp: Mit 10.000 € kommt man da selten hin. Ich kriege so am Rande mit, wie viele Dienstleister vor allem von Ministerien beauftragt werden und da fließen Summen, bei denen man Haar-Ausfall bekommt. Für Dienstleistungen, die sinnvoll sind und manchmal auch nicht. Und ein offenes Geheimnis – die großen der Branche begnügen sich nicht mit 2000 € pro Tag. Wenn der Geschäftsführer – meistens ein Mann mit Doktortitel – in den Call kommt, sind es schon mal 1000 € die Stunde.
Auch leisten es sich viele Kommunen, unsinnige Fach-Anwendungen entwickeln zu lassen. Unsinnig, weil jede Kommune ihr eigenes Süppchen kocht statt bestehende Lösungen zu nutzen.
Auch über die Kosten von Websites und Apps wird diskutiert. Zu Unrecht, wenn man sich die heutigen Prozesse anschaut: Da sind so viele Leute und so viele Projekt-Schritte involviert, dass die Kosten in aller Regel gerechtfertigt sind und genau kalkuliert werden, weil der Konkurrent nur einen Klick entfernt ist.
Doch es fällt auf, dass das Argument mit den hohen Kosten vor allem beim Thema Barrierefreiheit kommt. Der Pr-Experte darf seine 1500 € pro Tag einstreichen, aber der Barrierefreiheits-Experte soll bitte kostenlos arbeiten. Das ist die Erwartungs-Haltung, die oft dem Kunden ins Gesicht geschrieben steht, die er aus Scham aber natürlich nicht laut ausspricht.
Was sagt das aus? Dass Barrierefreiheit vor allem als netter Zusatz gesehen wird und nicht als Handwerk, das ebenso bezahlt werden muss wie der UX-Profi oder die Entwicklerin.
Weiterhin sagt das aus, dass die Zugänglichkeit für behinderte Menschen von vielen Verantwortlichen nicht als Notwendigkeit, sondern als nettes Extra gesehen wird. Kann man machen, kann man aber auch lassen. Vor allem kann man es aber runterhandeln, runterpriorisieren und „danach“, also nach allem anderen machen, was aus Sicht des Auftraggebers wichtiger ist. „Barrierefreiheit wird später gemacht“ war die lapidare Antwort eines potentiellen Kunden, der sich melden wollte und diesen Anruf ohne Info ausfallen ließ. Gibt es ein aussagekräftigeres Bild für die Geringschätzung der Barrierefreiheit.